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Riss im Lack - Kapitel 2: Unter der Oberfläche

Aktualisiert: 7. Mai

Tatjana verbrachte den restlichen Vormittag damit, ihre üblichen Amtsgeschäfte zu erledigen – zumindest äußerlich. Sie empfing zwei Schulklassen im glänzenden Ratssaal, unterzeichnete routiniert einige Dokumente und hielt eine kurze Pressekonferenz zu einem neuen Stadtbegrünungsprojekt. Ihr Lächeln war höflich und ihre Worte wohlgesetzt, doch innerlich kreisten ihre Gedanken unablässig um den anonymen Brief. Während sie vor den Kameras stand und den Journalisten sachlich das Konzept vertikaler Latex-Begrünungssysteme an den Fassaden erläuterte, fragte sie sich, ob einer dieser Reporter vielleicht schon Wind von der mysteriösen Ankündigung bekommen hatte. Bisher deutete nichts darauf hin – die Fragen blieben beim Thema. Noch war das Geheimnis tatsächlich ein Geheimnis.


Kaum war die Pressekonferenz vorbei, zog Tatjana sich in ihr Büro zurück und schloss die Tür. Sie musste jetzt einen Schritt vorausdenken! Wer auch immer den Brief geschickt hatte, würde vermutlich nicht tatenlos bis zum Festival abwarten. Vielleicht war es sogar das Ziel, sie in Unruhe zu versetzen und zu Fehlern zu treiben.


Ein leises Klopfen ertönte. Tatjana rief „Herein“, und Amalia trat ein, einen Tablet-Computer in den Händen. 


„Frau Orlowa, ich dachte, Sie möchten das vielleicht sehen.“ Mit diesen Worten legte sie das Tablet auf den Schreibtisch. Auf dem Display war die Startseite von Orlowa Aktuell, der meistgelesenen Nachrichten-Website der Stadt, zu sehen.



Tatjana beugte sich vor. Dort prangte in fetter Überschrift: „Gerüchte um Enthüllung beim Festival des Glanzes – Was verbirgt Orlowatopia?“ Darunter ein Artikel, der offenbar auf Spekulationen basierte: Demnach hätten anonyme Quellen der Zeitung Hinweise auf eine sensationelle Enthüllung am Festtag gegeben, ein mögliches „dunkles Geheimnis“ der Stadt würde ans Licht kommen. Kein konkreter Beleg, aber reißerisch genug formuliert, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Reporter schienen bereits Blut zu wittern.


Tatjana spürte einen Stich in der Magengegend. Also doch – jemand hatte offenbar die Presse informiert oder zumindest Gerüchte gestreut. Vielleicht derselbe Absender des Briefes? Die Veröffentlichung dieser Mutmaßungen könnte das Vertrauen der Bürger erschüttern, noch bevor irgendetwas passiert war. Sie las weiter: Da wurde über „Flüstern in den Gassen“ fabuliert und über angebliche Unregelmäßigkeiten in alten Akten, die zufällig kurz vor dem Fest entdeckt worden seien. Selbst der obligatorische Hinweis, die Stadtverwaltung habe sich dazu nicht geäußert, fehlte nicht – natürlich hatte man sie ja gar nicht erst gefragt, dachte Tatjana sarkastisch.


Sie richtete sich auf und straffte unwillkürlich den Saum ihrer Jackenärmel. „Wer auch immer dahintersteckt; er versteht es, Druck zu machen“, sagte sie nüchtern. „Man will uns in die Defensive zwingen, bevor wir überhaupt wissen, worum es geht.“


Amalia nickte wortlos. Ihre Finger umschlossen das Tablet so fest, dass das weiche Latex ihrer dünnen Handschuhe knisterte. „Was sollen wir tun?“, fragte sie schließlich.


„Zunächst Ruhe bewahren“, antwortete Tatjana. Es war eine Standardphrase in Krisensituationen, aber dennoch wahr. „Kein Kommentar an die Presse – sie würden jede Reaktion nur weiter aufbauschen. Lassen wir sie ins Leere laufen, bis wir Fakten haben.“


Sie überlegte kurz. „Amalia, informieren Sie bitte unseren IT-Sicherheitsbeauftragten Jaron, dass ich ihn sprechen möchte. Inoffiziell!“


Jaron Klein war ein zurückhaltender junger Mann und Spezialist für städtische Informationssysteme. Wenn jemand unbemerkt ins Rathaus gelangt war oder Spuren in den Netzwerken hinterlassen hatte, würde Jaron es herausfinden können.


Amalia verzog fast unmerklich die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln – wohl Erleichterung darüber, dass es einen Plan gab. „Sehr gern. Ich schicke ihn sofort zu Ihnen, sobald ich ihn erreiche.“


Wenige Minuten später trat Jaron tatsächlich ein. Er trug einen dunkelblauen Latex-Hoodie über einem enganliegenden Latexrollkragenpullover – ein für Orlowatopia relativ legeres Outfit, das aber dennoch akkurat saß. Der junge Mann schien etwas nervös zu sein; während Tatjana ihm einen Platz anbot, zupfte er an den Fingerspitzen seiner dünnen Latexhandschuhe, bis diese mit einem leisen schnapp wieder in die richtige Position rutschten.


„Sie wollten mich sprechen, Frau Bürgermeisterin?“ Seine Stimme war ruhig, aber er vermied den direkten Blickkontakt.


Tatjana kam ohne Umschweife zur Sache: „Herr Klein, ist Ihnen in den letzten Tagen irgendetwas Ungewöhnliches im IT-System aufgefallen? Irgendein unautorisierter Zugriff, ein Datenabruf außerhalb der Routine, Fehlermeldungen... irgendetwas?“


Jaron runzelte die Stirn. „Ungewöhnliches? Also, wir hatten vorgestern einen kleinen Ausfall im digitalen Archivkatalog, aber das schien nur ein Anzeigefehler zu sein. Und...“ Er zögerte kurz. „Herr Brandt ließ sich vorgestern von mir einige alte Dokumente aus dem Zentralarchiv heraussuchen. Historische Verwaltungsprotokolle und medizinische Berichte, sagte er, für eine Recherche.“ Er hob die Augenbrauen, nun doch direkt zu Tatjana blickend. „Es war ein wenig kurzfristig, aber er ist Stadtrat, also habe ich es natürlich erledigt.“



Tatjana tauschte einen raschen Blick mit Amalia, die stumm in einer Ecke des Büros verweilte. Leon Brandt also. Sein Name tauchte heute verdächtig oft in relevanten Zusammenhängen auf. „Hatten diese Dokumente etwas mit unserem Kleidungsgebot zu tun? “, fragte sie gezielt.


Jaron blinzelte überrascht. „Tatsächlich... ja. Unter den gewünschten Dateien waren alte Allergiestudien und die Protokolle der Stadtratssitzungen, in denen die Latexpflicht beschlossen wurde. Ich fand das ungewöhnlich, habe mir aber nichts anmerken lassen.“ 


Er fuhr sich mit der Hand nervös über den kurz geschorenen Hinterkopf, der matt im Deckenlicht glänzte. „Ich dachte, vielleicht schreibt er an einem Jubiläumsbericht oder so.“


Tatjana musste ihre Hände ganz bewusst entspannt halten, um nicht die Finger ineinander zu verkrampfen. Ihr Verdacht verhärtete sich: Leon Brandt suchte gezielt nach Informationen, die mit dem fundamentalsten Gesetz ihrer Stadt zu tun hatten. Und er tat es heimlich! Hatte er auch den Brief geschickt? War er die anonyme Quelle der Presse? Es wäre ein riskantes Spiel, aber Leon war bekannt dafür, Risiken als Sprungbrett für seine Karriere zu nutzen.


„Herr Klein,“ sagte sie mit ruhiger Stimme, obwohl ihr Herz schneller schlug, „bitte tun Sie Folgendes: Überprüfen Sie diskret die Protokolle, wann und wo diese Dateien zuletzt geöffnet oder kopiert wurden. Ich muss wissen, ob Kopien davon entstanden sind und ob eventuell Daten aus unserem Netz hinausgelangt sind. Suchen Sie auch nach ungewöhnlichen Zugriffen in den letzten Tagen – egal wie banal sie scheinen mögen.“


Jaron nickte sofort eifrig. Er war in seinem Element, froh eine konkrete Aufgabe zu haben. „Ich mache mich gleich daran. Soll ich Ergebnisse direkt an Sie persönlich schicken?“


„Ja, direkt an mich. Und sprechen Sie mit niemandem sonst darüber, bitte.“


Als Jaron gegangen war, trat Amalia an Tatjanas Seite. „Was denken Sie?“


Tatjana seufzte. „Es fügt sich zusammen, leider. Leon gräbt in alten Akten nach etwas, das er für brisant hält. Vielleicht hat er etwas gefunden, das er als ‚dunkles Geheimnis‘ verkaufen will. Und er hat offenbar Journalisten angefüttert, um Druck aufzubauen.“ Sie strich über ihre glänzende Stirn, auf der keine einzige Haarsträhne aus der strengen Hochsteckfrisur fiel. „Wir müssen herausfinden, was er entdeckt hat. Und ob es wirklich etwas ist, das uns gefährlich werden kann – oder ob es ein großes Missverständnis ist.“


Amalias Miene war sorgenvoll. „Leon Brandt ist klug genug, nur dann so etwas zu inszenieren, wenn er glaubt, tatsächlich etwas in der Hand zu haben.“


„Glaubt zu haben“, wiederholte Tatjana nachdenklich. „Genau. Vielleicht sieht er einen Riss, wo keiner ist, oder er will einen kleinen Kratzer zu einem Abgrund aufblasen.“ Ein Hauch von ironischer Schärfe schwang in ihrer Stimme, als sie hinzufügte: „Die Presse spielt jedenfalls fleißig mit beim Lack-und-Riss-Theater.“


Sie straffte sich und ging zur Garderobe neben der Tür, wo ihr langer schwarzer Latex-Trenchcoat hing. Der Mantel glänzte selbst im diffusen Bürolicht wie flüssige Tinte. „Ich gehe ins Stadtarchiv. Persönlich. Wenn Leon dort herumgestöbert hat, will ich mit eigenen Augen sehen, was er gesehen hat!“


Amalia griff bereits nach dem Mantel, um ihn ihrer Chefin umzulegen. Das Latexmaterial erzeugte ein leises Rascheln und Haftgeräusch, als Tatjana in die Ärmel schlüpfte und sich von ihrer Sekretärin den Kragen sorgfältig zurechtziehen ließ. Eine fast intime Vertrautheit lag in dieser Geste – in Orlowatopia half man sich oft gegenseitig beim Anziehen; es war eine Notwendigkeit bei hautenger Kleidung und kein Zeichen von Unterwürfigkeit.


„Soll ich Sie begleiten? “, fragte Amalia leise, während sie noch einen letzten Fussel von Tatjanas Schulter entfernte, der auf dem glänzenden Schwarz sofort aufgefallen war.


Tatjana lächelte dankbar. „Ja, bitte. Ihre Augen können im Archiv ebenso nützlich sein wie meine. Und vielleicht entdecken wir dabei gleich, ob dort auffällige Spuren hinterlassen wurden.“


Gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Während Tatjana durch die Flure des Rathauses schritt, das Klicken ihrer Absätze diesmal begleitet von einem leichten Quietschen des Mantels bei jeder Bewegung, spürte sie erneut diesen entschlossenen Fokus in sich. Was auch immer unter der Oberfläche lauerte – sie würde es ans Licht bringen, bevor jemand anderes es in eine Waffe gegen die Stadt verwandeln konnte!

1 Comment


Jessi Lui
Jessi Lui
May 01

wieder sehr gelungen. Wie geht es weiter - ich weiß es - zumindest zum Teil. Grins Lui

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