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Riss im Lack - Kapitel 1: Der anonyme Brief

Aktualisiert: 7. Mai




Tatjana Orlowa, die elegante Bürgermeisterin von Orlowatopia, stand an diesem Morgen in ihrem Büro am Panoramafenster und ließ den Blick über die makellos glänzenden Straßen ihrer Stadt schweifen. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und spiegelte sich bereits auf jeder Oberfläche: auf den metallischen Fassaden der Gebäude ebenso wie auf der Latexkleidung der wenigen Frühaufsteher, die unten vorbeigingen. 


Alles wirkte still, perfekt und auf eine beinahe unwirkliche Weise geordnet. Sie strich gedankenverloren mit der flachen Hand über den Ärmel ihres dunkelgrünen Latex-Blazers. Das Material war glatt und kühl; kein einziger Makel störte den Glanz. In Orlowatopia trugen alle Bewohner ausschließlich vegane Kleidung aus Latex. Es war ein unumstößliches Gesetz, geboren aus der merkwürdigen Unverträglichkeit gegenüber allen anderen Stoffen, die vor Generationen entdeckt worden war. „Perfekt geklebt, niemals genäht“, lautete das Credo der städtischen Schneider. Jede Naht war unsichtbar verbunden, sodass die Kleidung wirkte, als bestünde sie aus einer einzigen makellosen Haut. 


Tatjana atmete tief durch. Selbst nach Jahren im Amt erfüllte sie der Anblick der Stadt mit Stolz. Ein diskretes Räuspern riss sie aus ihren Gedanken. Ihre Assistentin Amalia stand in der Tür, in einem dezent geschnittenen, taupefarbenen Latex-Etuikleid, das im Morgenlicht dezent schimmerte. Ohne ein Wort trat die attraktive junge Frau näher und reichte Tatjana einen cremefarbenen Umschlag. Kein Absender, keine Briefmarke. „Das lag heute früh direkt vor Ihrer Bürotür, Frau Orlowa“, sagte Amalia leise. In ihrer ruhigen Stimme schwang etwas mit, das Tatjanas Aufmerksamkeit weckte – war es Besorgnis?


Tatjana nickte dankend und fühlte ein unerwartetes Gewicht in der Hand, als sie den Umschlag öffnete. Darin befand sich ein einzelnes Blatt Papier. Die Nachricht darauf war mit Maschinenschrift gedruckt, knapp und unpersönlich. Dennoch spürte sie beim Lesen, wie ihr Herz für einen Schlag aussetzte: 


„Während des Festivals des Glanzes wird ein dunkles Geheimnis von Orlowatopia aufgedeckt werden.“ 

Mehr stand nicht da. Kein „Sehr geehrte...“, keine Unterschrift, nur dieser Satz, der ihr einen von außen kaum merklichen Schauer über den Rücken laufen ließ. Tatjana runzelte die Stirn. Das Festival des Glanzes – das jährliche Fest, bei dem Orlowatopia seine perfekte Ästhetik und Einheit feierte – sollte in wenigen Tagen stattfinden. Es war das Highlight des Jahres, eine prachtvolle Parade aus Lack und Latex, ein Symbol für den Erfolg ihrer besonderen Gesellschaft. Und nun diese anonyme Drohung oder Ankündigung, dass dort ein „dunkles Geheimnis“ enthüllt werden solle. 




Sie legte das Blatt behutsam auf ihren Schreibtisch aus poliertem Stahl, wo es neben dem silbernen Brieföffner und einem akkurat sortierten Aktenstapel unheilvoll auffiel. Einen Moment lang hörte Tatjana nur ihren eigenen Atem. Dann hob sie langsam den Blick zu Amalia, die noch immer still wartete. 


„Hat irgendjemand gesehen, wer den Brief dort abgelegt hat?“ fragte die Bürgermeisterin und bemühte sich um einen sachlichen Ton. Ihre Stimme blieb ruhig, doch innerlich arbeitete es in ihr. In ihrem Spiegelbild im Fenster bemerkte sie, dass ihre dunkelbraunen Augen vor Anspannung etwas schmaler wurden. Amalia schüttelte bedauernd den Kopf. Eine Haarsträhne ihres ordentlichen dunkelblonden Dutts streifte dabei leise quietschend den Kragen ihres Kleides. „Leider nein. Das Sicherheitspersonal hat nichts Auffälliges bemerkt. Es war wohl sehr früh, als noch kaum jemand im Rathaus war.“ 


Tatjana presste die Lippen aufeinander. Wer auch immer diesen Brief geschrieben hatte, kannte den Ablauf im Rathaus gut genug, um ungesehen zu bleiben. Jemand mit Zugang... oder jemand, der wusste, wie man die Kameras umging – sofern es überhaupt Kameras im Rathausflur gab. Tatsächlich schien Orlowatopia mehr Wert auf Ästhetik als auf einen übertriebenen Sicherheitsapparat zu legen; hier vertraute man einander, stolz auf die Geschlossenheit der Gemeinschaft. Misstrauen war im glänzenden Alltag dieser Stadt ein Fremdwort. Bis jetzt. 


„Danke, Amalia“, sagte Tatjana schließlich und nahm erneut Platz an ihrem Schreibtisch, vorsichtig, um keinen Knick in ihrer engen Latex- Businesshose zu provozieren. Selbst in diesem Moment der Sorge achtete sie mechanisch auf die Unversehrtheit ihrer Kleidung – in Orlowatopia war dies so selbstverständlich wie das Atmen. Amalia zögerte. „Frau Bürgermeisterin... ist alles in Ordnung?“ Die Bürgermeisterin zeigte ihr den Zettel. 


Amalia betrachtete die gedruckten Buchstaben auf dem Papier. „Ein Scherz...“ fragte sie. „Wenn es doch nur so wäre“, war die Antwort. „Die Formulierung klingt zu gezielt, zu dramatisch.“ Jemand wollte, dass sie diese Botschaft ernst nahm – und zwar sie alleine, dachte Tatjana. „Nein“, entschied sie und hob die Hand. „Vorerst halten wir das unter uns. Keine Polizei, keine Presse. Ich möchte keine Panik aufgrund vager Andeutungen.“ 


Sie stand auf, ging um den Schreibtisch herum und reichte Amalia das Blatt. „Lassen Sie bitte eine Kopie davon machen und bewahren Sie das Original sicher in meinem Tresor auf.“ Ihre nächsten Worte wählte sie mit Bedacht. „Und informieren Sie niemanden weiter darüber, ja? Nicht einmal Herrn Brandt.“ Bei der Erwähnung von Leon Brandt, dem ehrgeizigen Stadtrat, verengten sich Amalias Augen kaum merklich. Sie kannte die politischen Spannungen im Rathaus gut genug. „Verstanden, Frau Orlowa.“ Tatjana zwang ein schmales Lächeln auf ihre Lippen. „Danke. Ich werde in der Zwischenzeit selbst nachdenken, was das zu bedeuten hat.“ 


Als Amalia das Büro verlassen hatte, lehnte Tatjana sich gegen die Tischkante und schloss für einen Moment die Augen. Unter ihren Fingerspitzen spürte sie den hochglänzenden Rand des Schreibtischs, kalt und makellos wie die Fassade, die sie nun wahren musste. Ein dunkles Geheimnis, das Orlowatopia bedrohen sollte... Was konnte damit gemeint sein? 




Ihre Gedanken wanderten unwillkürlich zu all den Prinzipien, auf denen diese Stadt ruhte: absolute ästhetische Harmonie, Gesundheit durch konsequentes Meiden aller allergenen Materialien, Transparenz in der Verwaltung – Ironie des Schicksals, wenn ausgerechnet Letzteres nun infrage gestellt würde. 


„Riss im Lack“, flüsterte sie zu sich selbst und öffnete die Augen wieder. Ein altmodisches Sprichwort, das ihre Großmutter benutzt hatte fiel ihr ein: Irgendwo gibt es immer einen kleinen Riss im Lack. Gemeint war wohl, dass nichts jemals so perfekt ist, wie es scheint. Tatjana hatte es nie wörtlich genommen – hier in Orlowatopia war der Lack buchstäblich immer ohne Risse. Doch die Worte des anonymen Briefes fühlten sich sehr wohl wie der erste Sprung in einer Glasur an. 


Tatjana straffte die Schultern. Wenn jemand vorhatte, Unruhe oder gar Zwietracht während des Festivals zu stiften, dann lag es an ihr, dies zu verhindern. Als souveräne Bürgermeisterin schuldete sie es den Bürgern, für Stabilität zu sorgen. 


Ein dunkles Geheimnis... Sollte es tatsächlich etwas in der Vergangenheit ihrer Stadt geben, das sie nicht kannte? Oder war es ein aktuelles Komplott? Ein Systemfehler, wie in manchen Gerüchten über neue Technologie, oder gar ein menschliches Fehlverhalten? Noch war alles nebulös. Aber eins war klar: Sie würde Antworten finden – diskret, entschlossen und vor allem rechtzeitig vor dem Festival des Glanzes. 


Tatjana löste sich vom Tisch, strich ihren Blazer glatt und ging mit festen Schritten zur Tür. Während ihre Absätze – bezogen mit demselben Latex wie ihre Kleidung – leise über den Marmorboden glitten, fasste sie einen Entschluss. Das glänzende Äußere ihrer Stadt mochte makellos erscheinen. Doch wenn tatsächlich ein Riss darin war, würde sie ihn finden und beheben, bevor daraus ein Spalt werden konnte.

1 comentario


Jessi Lui
Jessi Lui
23 abr

Danke für die tolle Geschichte.

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Beitrag: Blog2_Post

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