Riss im Lack - Kapitel 4: Stille Konfrontationen
- Tatjana Orlowa
- 14. Mai
- 6 Min. Lesezeit
Am nächsten Morgen betrat Tatjana das Rathaus noch vor Sonnenaufgang. Sie hatte kaum geschlafen - zu sehr hatten die alten Dokumente und Agnes’ Worte in ihrem Kopf nachgehallt. Noch bevor der Betrieb in den Büros begann, wählte sie von ihrem verschlüsselten Diensthandy eine Nummer, die seit Jahren nicht benutzt worden war: Dr. Mira Zelenko.
Die Stimme der älteren Immunologin klang schläfrig, aber freundlich, als sie abhob. Tatjana fasste sich kurz und erklärte in vorsichtigen Worten, dass es um eine Frage zu den damaligen Allergiefällen ging. Dr. Zelenko zögerte zunächst, doch als Tatjana ihr versprach, dass dieses Gespräch unter vier Augen bliebe und für die Sicherheit der Stadt wichtig sei, gab die Pensionärin Auskunft. Sie klang noch immer überzeugt davon, dass es richtig gewesen war, lieber entschlossen zu handeln als abzuwarten.
Wenige Minuten später dankte Tatjana der Medizinerin herzlich und versprach, sie bald persönlich zu besuchen. Dann legte sie auf. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, doch ein kleiner Teil der Unsicherheit hatte sich gelegt. Dr. Zelenko hatte bestätigt, was Tatjana vermutet hatte: In den Monaten nach Einführung der Latexpflicht war es tatsächlich gelungen, in tiefergehenden Untersuchungen die Ursache der allergischen Reaktionen eindeutig festzumachen. Ein damals neuartiger synthetischer Farbstoff in importierten Textilien hatte in Kombination mit einem bestimmten genetischen Marker bei Teilen der Bevölkerung zu den schweren Symptomen geführt. Diese Erkenntnis war jedoch erst mit Verzögerung publiziert worden, als die Akten der Öffentlichkeit längst geschlossen waren und die Maßnahmen schon griffen. Die Stadtoberen hatten seinerzeit entschieden, keine große rückwirkende Pressemitteilung herauszugeben, um keine alten Wunden aufzureißen; schließlich hatte das konsequente Handeln Erfolg gezeigt und Vertrauen geschaffen. Tatjana blickte sie aus dem Fenster ihres Büros. Über den Dächern von Orlowatopia dämmerte der Himmel. Heute war der Tag des Festivals des Glanzes.
Gegen Mittag fand sich Tatjana in der kleinen Kaffeelounge neben dem Sitzungssaal ein, wo sie Leon Brandt um ein informelles Gespräch gebeten hatte. Er erschien, perfekt gekleidet wie immer: ein maßgeschneiderter dreiteiliger Anzug aus tiefschwarzem Latex, das Revers dezent mit einem ornamentalen Muster geprägt. Sein Haar war zurückgekämmt, und sein Lächeln wirkte unerschütterlich selbstzufrieden.
„Frau Bürgermeisterin“, grüßte er und gab Tatjana die Hand. Das übliche Protokoll – höflich, glatt. Dennoch funkelte etwas in seinen Augen, eine Mischung aus Anspannung und Triumph, die einem weniger geübten Beobachter entgangen wäre. Tatjana jedoch entging nichts.

„Herr Brandt, danke, dass Sie Zeit gefunden haben“, begann sie, nachdem beide jeweils mit einer dampfenden Tasse veganen Sojakaffees vor sich Platz genommen hatten. Für Außenstehende mochten sie wie zwei Kollegen wirken, die sich zu einer entspannten Pause trafen. Doch unter der Oberfläche dieses Treffens brodelte es.
„Natürlich. Am Festtag gibt es viel zu tun, aber für Sie immer“, erwiderte Leon mit charmantem Unterton. „Worum geht es?“
Tatjana legte den Kopf leicht schräg und musterte ihn einen Moment lang schweigend. Wie oft hatten sie in diesem informellen Eckchen schon gesprochen, meist über Kulturprogramme oder Budgetposten? Heute schien der Raum enger als sonst. „Ich wollte mit Ihnen über die Gerüchte sprechen, die gerade durch die Stadt gehen“, sagte sie dann direkt. „Über ein angeblich dunkles Geheimnis, das heute enthüllt werden soll.“
Leon zog die Augenbrauen hoch und spielte die Überraschung überzeugend. „Gerüchte sind das, in der Tat. Üble Sache - so kurz vor unserem schönen Festival! Die Presse stürzt sich ja gierig darauf.“ Er nippte gelassen an seinem Kaffee. Die Bewegung ließ sein Jackett leise knarzen. „Aber was können wir Politiker dagegen tun, außer sie zu ignorieren?“
Tatjana erlaubte sich ein dünnes Lächeln. „Wir können dafür sorgen, dass gar kein echtes Futter für solche Gerüchte existiert.“ Sie stellte ihre Tasse unberührt ab. „Leon – lassen wir die Förmlichkeiten – ich weiß, dass Sie im Archiv Nachforschungen angestellt haben!“
Für den Bruchteil einer Sekunde erstarrte sein Lächeln, dann lachte Leon leise. „Nachforschungen? Ist es jetzt verdächtig, wenn ein Stadtrat sich für die Geschichte seiner Stadt interessiert?“ Er lehnte sich zurück, doch seine Finger hielten die Tasse etwas zu fest. „Ich habe einige Dinge gelesen, ja. Sehr aufschlussreiche Lektüre, muss ich sagen.“
Tatjana spürte einen leichten Stich. Er wollte, dass sie nachfragte. Doch sie ging nicht in die Falle. Stattdessen nickte sie ruhig. „In der Tat. Die Anfangsjahre unserer Stadt waren turbulent. Manche Entscheidungen wurden unter großem Druck getroffen.“
Leon beugte sich vor, stellte nun ebenfalls seine Tasse ab. Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund. „Turbulent ist ein hübsches Wort dafür. Andere würden sagen: übereilt, uninformiert – oder gar manipulativ.“ Er senkte die Stimme, obwohl niemand sonst im Raum war. „Wenn die Bürger wüssten, dass die große Allergie, auf der unsere ganze schöne Kleiderordnung fußt, damals nicht einmal bewiesen war…“ Er ließ den Satz in der Luft hängen und hob gespielt bedauernd die Hände. „Oh, entschuldigen Sie, ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe. Schließlich war Ihre eigene Familie an diesen Entscheidungen beteiligt.“
Tatjana blieb äußerlich beherrscht, doch innerlich flammte Ärger auf. Nicht wegen des Seitenhieb auf ihre Mutter – damit hatte sie gerechnet. Sondern wegen Leons unverhohlener Genugtuung. „Sie irren, Leon“, sagte sie kühl. „Die Allergie war real. Sie ist real. Nur weil in einem frühen Stadium Unsicherheit herrschte, heißt das nicht, dass Orlowatopia auf einem Irrtum basiert.“
Leon zuckte mit keiner Wimper. „Nun, das sehen vielleicht nicht alle so.“ Er zog ein silbernes Datenpad aus seiner Jackentasche und wischte mit dem Finger darüber. Für einen Moment reflektierte das Display das Licht und warf einen kühlen Glanz auf sein Gesicht. „Ich habe Beweise dafür, dass der Stadtrat damals eine Entscheidung getroffen hat, bevor die Fakten klar waren. Und dass die Öffentlichkeit mit vollmundigen Behauptungen beruhigt wurde. Würde das publik werden, wäre das Vertrauen in unsere makellose Führung… sagen wir, angekratzt.“
Tatjana senkte den Blick auf das Datenpad, das er ihr nicht direkt zeigte, aber provokativ in den Händen hielt. Sie brauchte es gar nicht zu sehen – sie kannte den Inhalt vermutlich schon. Genau die Kopie des Siebert-Memos, vielleicht mit markierten Stellen. „Sie planen also tatsächlich, das heute zu enthüllen“, stellte sie fest, so ruhig wie möglich.
Leon ließ das Gerät verschwinden und schlug einen freundlichen Ton an: „Enthüllen? Liebe Tatjana, ich bin doch nicht der Bösewicht in einem Theaterstück.“ Er legte die Hand aufs Herz in gespielter Empörung, was ein leises Quietschen seines Hemdes verursachte. „Aber ich denke, Ehrlichkeit ist wichtig! Die Bürger haben ein Recht zu erfahren, wenn etwas so Fundamentales… naja, auf fragwürdigen Umständen beruhte. Und vielleicht,“ – er lächelte unschuldig – „vielleicht haben sie auch ein Recht auf eine Kurskorrektur?“

Tatjana wusste genau, was er damit andeutete. Wenn das Volk glauben würde, die Grundlage der Latexpflicht sei eine Lüge, würden Stimmen laut, diese Pflicht abzuschaffen – eine revolutionäre Veränderung, die Leon sicher als künftiger Retter der Freiheit anführen wollte. Er malte sich offenbar aus, wie er als der Mann dastehen würde, der Orlowatopia von einem „Irrtum“ befreite. Tatjana erhob sich langsam von ihrem Sitz. Ihr grüner Blazer reflektierte das helle Neonlicht in der Lounge, als wolle er Leons schwarzen Glanz herausfordern.
„Leon“, sagte sie und sah ihm direkt in die Augen, „ich werde Sie nicht davon abhalten können, das zu tun, was Sie für richtig halten. Aber ich warne Sie: Halbe Informationen sind gefährlich. Sie kennen einen Teil der Geschichte, aber nicht die ganze!“
Er stand nun ebenfalls auf, kaum eine Armlänge von ihr entfernt. „Ach nein?“, hauchte er beinahe belustigt. „Und den kennen natürlich nur Sie?“
Tatjana hielt seinem Blick stand. „Sagen wir, ich habe die vollständigen Informationen eingeholt. Was Sie als ‚dunkles Geheimnis‘ betrachten, ist in Wahrheit ein Missverständnis, das sich längst aufgeklärt hat – nur leider nicht auf dem Weg, den Sie gewählt haben.“ Sie nahm ihre Tasse und stellte sie in den Geschirrspüler, eine alltägliche Geste, die in diesem Moment wie ein stilles Signal des Abschlusses wirkte. „Ich werde heute Abend auf dem Festival sprechen und ich lade Sie herzlich ein, mir zuzuhören. Vielleicht werden Sie Überraschungen erleben.“
Leon biss die Zähne zusammen; sein Lächeln war verschwunden, seine Miene nun hart. Für einen Augenblick flackerte Unsicherheit in seinen Augen auf, aber ebenso schnell legte sich eine Maske aus Trotz darüber. „Nun, ich bin gespannt, was Sie dem entgegenzusetzen haben“, sagte er leise. „Viel Glück, Frau Bürgermeisterin!“
Ohne eine Verabschiedung abzuwarten, wandte er sich ab und verließ mit langen Schritten den Raum. Tatjana blieb noch einen Moment stehen, atmete tief durch und spürte ihr Herz heftig schlagen. Das Duell der Andeutungen war vorbei – das nächste Aufeinandertreffen würde nicht mehr im Verborgenen stattfinden, sondern vor den Augen der ganzen Stadt.
Sie raffte ihre Unterlagen zusammen und verließ die Lounge ebenfalls. Draußen im Flur begegnete sie Amalia, die scheinbar zufällig vorbeikam – sicherlich aber in Wahrheit in Sorge in der Nähe gewartet hatte.
„Alles in Ordnung?“, fragte Amalia behutsam und reichte Tatjana einen frisch aufpolierten Ordner, der die Ausdrucke der heutigen Festreden enthielt.
Tatjana nickte. „Ja. Herr Brandt wird tun, was er tun muss. Und wir auch.“ Sie lächelte schmal und strich ein letztes Mal über den Ordner. Darin lag auch ihre eigene Rede für den Abend – die sie nun allerdings kurzfristig würde ergänzen müssen.
„Halten Sie alle relevanten Unterlagen bereit“, wies sie Amalia an. „Ich möchte technische Unterstützung vorbereiten – Jaron soll an der Bühnenpräsentation mithelfen, rein vorsorglich.“ Wenn Leon wirklich versuchen würde, während ihrer Rede das Siebert-Memo oder Ausschnitte daraus einzublenden, musste der junge Informatiker gewappnet sein, die Kontrolle zu übernehmen.
„Wird gemacht“, bestätigte Amalia.
Tatjana spürte eine Mischung aus Anspannung und Zuversicht in sich aufsteigen. Das letzte Gespräch mit Leon hatte klargemacht, wie der Abend verlaufen könnte. Es würde kein einfacher Auftritt werden – aber sie war vorbereitet, so gut es die Umstände zuließen.
Während die Sonne sich langsam dem Horizont zuneigte und Orlowatopia in fiebriger Erwartung des glänzenden Festabends vibrierte, traf Tatjana die letzten Vorbereitungen. Sie würde der Stadt die Wahrheit präsentieren – die ganze Wahrheit. Und hoffen, dass die Menschen jene Wahrheit erkennen würden, die tiefer reichte als jede schillernde Oberfläche.
Wieder ein wunderschön geschriebenes Lesevergnügen und die spannende Fortsetzung einer fesselnden Geschichte.
eine tolle Geschichte, bin auf die Fortsetzungen gespannt
Ja die Intrige. Stimmt. Freut mich. Viel Spaß beim lesen.