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Riss im Lack Kapitel 5: Das Festival des Glanzes

Die Nacht brach herein, und Orlowatopia glänzte heller als je zuvor. In der Hauptstraße, die zum großen Stadtplatz führte, hatten sich Tausende von Bürgern versammelt. Unter funkelnden Lichtergirlanden bewegte sich eine Parade aus farbenfrohen Latexgewändern: Tänzerinnen in rot schimmernden Catsuits, die an Flamenco-Kleider erinnerten, Musikbands in glänzenden Uniformen und Akrobaten, deren Bewegungen im Licht der Scheinwerfer leuchtende Spuren hinterließen. Die ganze Stadt wirkte wie ein lebendiges Kunstwerk aus Licht und Latex.



Tatjana stand hinter der Bühne am Rand des Platzes und atmete tief die kühle Abendluft ein. Sie trug zu diesem Anlass ein festliches Ensemble – ein maßgeschneidertes Etuikleid aus tiefviolettem Latex, darüber einen halbtransparenten, schwingenden Umhang, der an einen Talar erinnerte. Das Outfit vereinte Tradition und Moderne und funkelte bei jeder Bewegung. Amalia hatte ihr gerade noch einmal mit einem Mikrofasertuch über die Schultern gewischt, um den Glanz zu perfektionieren.


„Sind Sie bereit?“, flüsterte Amalia, während die letzten Takte der Vorführungen verklangen.


Tatjana nickte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, doch ihre Haltung blieb aufrecht und ruhig. Hinter ihr überprüfte Jaron ein letztes Mal die Verbindung zum Präsentationssystem – er hatte sich diskret am Technikpult postiert, außerhalb des Lichtkegels der Scheinwerfer. Der Stadtmoderator kündigte nun die Bürgermeisterin an, und Applaus brandete auf.


Tatjana trat ins Rampenlicht. Ein ganzes Meer aus glänzenden Gesichtern und leuchtenden Augen blickte zu ihr empor. Von den umliegenden Gebäuden wehten Banner aus Latexstoff in Gold und Silber, die im Wind raschelten. Sie spürte die festliche Erwartung – und zugleich das leise Knistern der Spannung in der Luft, genährt von den Gerüchten des Tages. Einige hielten ihre Smartphones hoch; ihre Worte würden sicher live gestreamt und kommentiert.


Sie begann mit einer Begrüßung. Ihre Stimme hallte klar über den Platz, verstärkt durch die Lautsprecher. Tatjana sprach über den Anlass des Festes, lobte den Gemeinschaftssinn, dankte den Organisatoren. Alles war genau so, wie in jedem Jahr – und doch spürte jeder, dass diesmal etwas anders war.


Nach ein paar Minuten kam sie zum Kern. „Liebe Bürgerinnen und Bürger“, sagte sie und machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause. „Unser Festival des Glanzes steht für die Schönheit und Einheit Orlowatopias. Aber in den letzten Tagen wurden Stimmen laut, die behaupten, ein Schatten lege sich über unseren Glanz. Sie alle haben die Schlagzeilen gesehen.“ Ein unruhiges Raunen ging durch die Menge. Offensichtlich hatte ein Großteil des Publikums von den Gerüchten erfahren. Auf manchen Gesichtern spiegelte sich Besorgnis, auf anderen Neugier.


„Heute Abend möchte ich offen zu Ihnen sprechen.“ Tatjanas Herz schlug heftig, doch ihre Stimme blieb fest. „Es gibt – so heißt es – ein ‚dunkles Geheimnis‘, das heute enthüllt werden soll. Etwas, das unser grundlegendes Gesetz, die Latexpflicht, infrage stellt.“ Nun war es totenstill auf dem Platz. Man hätte das sprichwörtliche Nadelkissen fallen hören können – wären da nicht hin und wieder die leisen Geräusche knisternder Kleidung beim Atmen gewesen.


Tatjana fuhr fort: „Ich weiß, dass viele von Ihnen verunsichert sind. Sie fragen sich, ob es etwas gibt, das Ihnen verschwiegen wurde.“ Ihr Blick wanderte langsam über die Menge; sie suchte den Augenkontakt mit den ersten Reihen. „Ich verstehe Ihre Sorge. Vertrauen ist das Fundament unserer Gemeinschaft. Und deshalb werde ich jetzt und hier dieses vermeintliche Geheimnis ansprechen.“

 

Kaum hatte sie den Satz beendet, geschah es: Hinter ihr, auf der großen Leinwand, die eigentlich das farbenfrohe Logo des Festivals zeigte, flackerte das Bild. Das Logo verschwand, und stattdessen erschienen Zeile um Zeile eines eingescannten Dokuments – erst unscharf, dann klarer. Es war ein Brief mit Datumsangabe, zwei Jahrzehnte alt. Einzelne Worte sprangen hervor, auf der riesigen Fläche für alle deutlich lesbar: „uneinheitlich“, „keine eindeutige allergische Reaktion“, „öffentlich kommunizieren wir eine bestätigte Unverträglichkeit“.


Ein kollektives Keuchen ging durch die Menge. Viele erkannten sofort, was das bedeutete – oder glaubten es zumindest zu erkennen. Tatjana spürte einen kurzen Stich der Panik, als sie den vertrauten Wortlaut sah. Offenbar hatte Leon seine Drohung wahrgemacht: Er – oder ein Komplize – schleuste gerade das brisante Memo in die Live-Übertragung ein.


Für ein, zwei Herzschläge herrschte Chaos. Einige Zuschauer begannen aufgeregt miteinander zu reden, Rufe wurden laut: „Was steht da?“ – „Haben die uns belogen?“


Tatjana jedoch reagierte instinktiv. „Bitte bleiben Sie ruhig!“, rief sie ins Mikrofon, doch ihre Stimme ging im aufbrandenden Tumult beinahe unter.


In diesem Moment griff Jaron ein. Ein leises Summen – kaum hörbar gegen den Lärm der Menge – verriet, dass er am Technikpult die Kontrolle übernahm. Die Schrift auf der Leinwand flackerte erneut und verschwand dann abrupt. Für einen Moment blieb die Fläche schwarz, ehe sie wieder das offizielle Stadtlogo zeigte – diesmal in zurückhaltendem Blau.


Leon Brandt, der seitlich auf der Bühne in der Reihe der Ehrengäste stand, trat ungehalten vor. „Lasst es laufen!“, rief er, ohne Rücksicht auf die Mikrofone – aber es war zu spät. Zwei Techniker, von Jaron im Voraus instruiert, stellten sich hastig vor den Projektor.


Tatjana hob beschwichtigend die Hand. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, doch in diesem kritischen Moment spürte sie eine seltsame Ruhe in sich einkehren. All die Anspannung der vergangenen Tage bündelte sich nun zu kühler Entschlossenheit.



„Meine Damen und Herren“, rief sie, und diesmal klang ihre Stimme beinahe streng. „Bitte hören Sie mir zu. Ich werde Ihnen erklären, was es mit diesem Dokument auf sich hat.“ Langsam legte sich das Stimmengewirr, und die Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück – wenngleich etliche im Publikum noch immer sichtlich aufgewühlt waren.


Auf der Leinwand hinter ihr erschien nun – dank Jaron – eine vorbereitete Präsentationsfolie: ein Diagramm mit Jahreszahlen und Prozentsätzen, deutlich beschriftet. Es war Teil jenes Abschlussberichts, den Tatjana im Archiv gesehen hatte.


Sie atmete tief durch – und leitete über zur Enthüllung.

 
 
 

1 comentario


mursch52
vor 6 Tagen

Eine neue Folge ...... wie schön ..... bin gespannt, wie es weiter geht .....

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