Lebend in Berlin - Die Urgeschichte um Herrin Jessi - kein SM - die urspüngliche Geschichte aus 1998
- Jessi Lui
- 9. Dez. 2020
- 114 Min. Lesezeit
Lebend in Berlin
Berlin. Eine Gruppe Jugendlicher saß in einer verlassenen Straße in der Nähe des Bahnhofs Zoo zwischen den Häusern. Es war eine Gruppe von 15 Jungen und 6 Mädchen. Alle hatten rote Gesichter und waren außer Atem. Ihre Körper waren verschwitzt. In der Ferne konnte man noch einen weiteren Trupp ausmachen, der sich aber rasch entfernte. Viele der Verbliebenden hatten Messer und Baseballschläger bei sich. Es hatte hier ohne Zweifel eine Schlacht stattgefunden. An den Wänden der Häuser fielen mehrere Graffitizeichnungen auf. Es handelte sich hierbei um eine Schlange und einen Skorpion, wobei eine Schlage besonders groß an die Wand gezeichnet war. Ein großer Junge, der etwa 17 Jahre alt sein mochte, stach besonders aus dem Trupp hervor. "Wo bliebt der Sound?" brüllte er einen seiner Freunde an, bevor er eine Bierdose an den Mund setzte. Im anderen Arm hatte er ein junges Mädchen, das noch 15 war. Sie hieß Jessica und hatte die Ehre, die Freundin des Chefs der Gang, die sich "Die Snakes" nannten, zu sein. Harry Klein, besser bekannt als King, führte die Gruppe, von der fast alle aus einer Schulklasse stammten. Die Gruppe der Skorpions, die sie gerade erfolgreich geschlagen hatten, führte ein Junge namens Michael Steve Buhl, genannt Mic. Die Skorpions standen im Gegensatz zu den Snakes auf Rock, während die Snakes nur Teckno hörten. Beide Gruppen bekämpften sich seit Jahren.
King stellte die Bierbüchse ab. In der Ferne waren Polizeisirenen zu hören. "Es geht weiter." brüllte er. Seine Kameraden griffen nach ihrem Werkzeug, Brechstangen, Baseballschläger und gingen damit in Deckung. Die Polizeiwagen bogen in die Straße ein und kamen zum Stehen. Es waren zwei Wagen mit je zwei Beamten darin. Sofort nach ihrem Halt verließen die Snakes ihre Deckung und rannten auf die Wagen zu. Mit ihren Waffen zertrümmerten sie die Frontscheiben, und schlitzen die Reifen auf. Die Polizisten wurden aus den Wagen gerissen und auf der Straße niedergeworfen. Wer sich bewegte, wurde mit Hilfe einer Brechstange daran gehindert. Jeder kannte seine Aufgabe. Während einige die Polizisten in Schach hielten, wurden aus den Wagen in Windeseile die Radios und die Funkgeräte ausgebaut und mitgenommen. Hilflos mußten die Polizisten mit ansehen, wie die Gang in der Ferne verschwand. Ihre gesamte Ausrüstung war verschwunden. Wer die Autos sah, hätte nicht glauben können, daß diese vor wenigen Minuten noch gefahren waren.
Die Snakes waren unter dessen unterwegs zum Bahnhof Zoo. Ruhig und gelassen schlenderte Harry durch die Bahnhofshalle. Jessica hatte Schweiß auf der Stirn. Angstschweiß. Den hatte sie immer, wenn sie unterwegs waren. Sie hatte Angst um Harry. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren. Sie liebte ihren Harry mehr als alles andere. Bei dem Gedanken, daß die Bullen ihn einsperren könnten, verzweifelte sie. Er war alles, was sie besaß. Ohne ihn war sie nichts. Jessica war ein nettes Mädchen. Ein Mädchen mit vielen Problemen. Vielleicht hing sie deshalb so an Harry. Harry hingegen hatte seine Gang fest im Griff. Mit eiserner Faust regierte er das Berliner Gebiet zwischen Tiergarten, Charlottenburg und Schöneberg. Keiner, außer den Skorpions, stellte sich ihm in den Weg. Mic und er gingen in die selbe Klasse und haßten einander. Dieser Haß hatte die Klasse und manche Freundschaft gespalten. Wer konnte, schloß sich einer der beiden an, um Schutz vor dem anderen zu finden. Dennoch bestand ein ungeschriebenes Gesetz, was darauf hinwies, daß nichts gegen einzelne Personen der Gangs unternommen wurde. Es galt, die Gruppe zu besiegen, nicht dessen Anhänger. Eine vielfache Übermacht, die zu einem Sieg führte, war eine Schande und kein Erfolg für die jeweilige Gruppe. Sie kämpften mit Knüppeln, aber nicht, um jemanden zu töten. Es war blutiger ernst, aber nicht so blutig, wie es nach außen hin aussah.
Am Bahnhof steuerte Harry auf einen kleinen Laden zu, der einem jungen Geschäftsmann gehörte. Die Jungen kannte ihn. Max, so wurde es genannt, war früher bei den Snakes gewesen. Das war zu Zeiten, als Harrys Bruder noch lebte und die Gang führte. Die Bullen waren bei Max. Sie hatten ihm die Hölle heiß gemacht. Er mußte aus der Bande aussteigen. damit sie ihn nicht eingesperrte hätten. Max war der bester Freund Harrys Bruders gewesen. Er hatte, als er starb, seine Hand gehalten und für ihn Rache geschworen. Seit diesem Tag war Harry Führer der Snakes. Max hatte sich in den Hintergrund zurück gezogen und versorgte seine Freunde nur noch mit Material. Harry begrüßte seinen Freund und schüttelte ihm die Hand. "Was kann ich für Dich tun?" fragte Max. Harry winkte einen seiner Jungs heran, der die geklaute Elektronik brachte. Max lächelte: "Gute Arbeit." Harry nickte und schaute Max an: "Was ist?" "Zwei Dinge." antwortete Max. "Der Laden da drüben geht mir auf die Eier." Er zeigte auf ein gegenüberliegendes Geschäft. "Und zweitens brauche ich Rechner, Computer. So gut wie möglich. Schlepp mir aber keine Scheiße an." "Wieviel?" fragte Harry. Max lächelte: "Kohle oder PCs? Ich brauche 20. Gebe Dir 500 Mark für einen. Wann kannst Du liefern?" Harry schaute seinen Freund an: "10.000 Eier? Wann willst Du sie haben? Fragen wir doch mal so." Max lächelte: "In einer Wochen lieferst Du. Paß aber auf, daß sie Dich nicht schnappen." Er schaute Jessica an. "Die Kleine macht sich ja fast ins Hemd." lachte er. "Laß das!" forderte ihn Harry auf. "Willst Du noch was, oder nur die Rechner? Software-mäßig, meine ich?" Max schaute ihn, sich über die Erinnerung freuend an: "Mit Windows und Office, versteht sich." Harry nickte: "OK" Max zog einen Hundertmarkschein aus der Tasche und deutete auf das Geschäft gegenüber. Ihre Blicke trafen sich. Langsam trat Harry aus dem Geschäft. Die anderen folgten ihm. Jessica war dicht hinter ihm. Sie hatte Angst. Was hatte er nun schon wieder vor? Harry zog sie zu sich heran und drückte ihr einen Kuß auf den Mund. Einen kleinen Moment wandelte sich Jessicas Angst in Wohlgefühl. Aber das war wieder vorbei, als er sie wieder losließ und auf das Geschäft zutrat. Die Fensterscheibe ging zu Bruch. Die Bande stand ihm Geschäft. Harry ging auf den Besitzer des Geschäftes zu und faßte ihn am Kragen: "Ich habe gehört, Du willst hier verkaufen? Hier verkauft keiner ohne meine Erlaubnis." Der Geschäftsführer spürte das Messer zwischen den Rippen. "Was wollen Sie?" fragte er ängstlich. "Wöchentlich 200 Mark. Wenn Du zahlst, passiert Dir nichts." Seine Worte waren ernst. Harry verstärkte seinen Ausdruck der Überlegenheit, indem er einen Apfel aus dem Regel griff und hineinbiß. "Wo bleibt das Geld?" fragte er. Der Geschäftsmann ging zur Kasse und reichte Harry die 200 Mark heraus. Dieser bedankte ich mit den Worten: "Ist gut Alter. Dann bis nächste Woche." Die Gang verließ den Bahnhof.
In einem Keller nicht weit von der Stelle, wo an diesem Tag die Schlacht stattgefunden hatte, setzten sie sich zur Beratung zusammen. Einer der Jungen holte einen Stadtplan hervor und legte ihn auf den Tisch. Er war alt, staubig und an manchen Stellen schon eingerissen. Harry blickte in die Runde und blieb an einem sportlich schlanken Jungen hängen. John. Welches Geschäft hat die besten Computer?" John war Computerexperte. Er sagte manchmal, er habe schon als Baby am Computer gespielt. "Ich weiß nur, wer die besten Preise hat. Sonst sind sie doch alle gleich." sagte er lächelnd. Dann nannte er ein Geschäft, das die höchsten Preise hatte, und meinte: "Wenn Du willst, kannst Du das nehmen. Da fällt es nicht so auf. Das Schwein hat genug Geld. Außerdem hat er mich mal beschissen." "Na dann ist es doch nicht so schlimm.", sagte Harry. Er lachte. "Gut. Heute ist Freitag. Morgen ist das Geschäft auf. Wir werden uns den Laden mal anschauen. Mal sehen, was es gibt." Seine Kameraden nickten. John schaute auf die Uhr. "Halb sechs.", stellte er fest. "Heute hat er nicht mehr auf. Probieren wir es morgen." Harry nickte: "Meinetwegen."
Nach dem harten Tag in der Schule waren alle kaputt, und so war es nicht verwunderlich, daß sich die Mitglieder der Snakes nun trennten und in kleinen Gruppen nach Hause gingen. Harry faßte seiner Jessica um die Hüfte und gab ihr einen Kuß auf den Mund. Jessica genoß diesen Kuß, da sie jetzt, da die anderen fort waren, keine Angst mehr um Harry zu haben brauchte. "Was wollen wir jetzt machen?" fragte Harry. Noch ehe Jessica etwas sagen konnte, schlug er vor, mit ihr ins Kino zu gehen. Jessica traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen. Außerdem wußte sie auch nicht, was sie zu hause sollte. Ihr Vater war eh nicht zu hause, und ihre Mutter war Gott sei Dank vor einigen Jahren bei ihnen ausgezogen. Geschwister hatte Jessica nicht mehr. Beide gingen zu einem großen Kinozentrum und besuchten in einen Liebesfilm, der von Harry ausgesucht und von Jessica akzeptiert worden war. Spät am Abend brachte Harry Jessica nach hause. Dort war es so ruhig wie immer. Ihr Vater war unterwegs und sonst war auch keiner da.
Am nächsten Morgen trafen sich die Snakes an der gewohnten Stelle. John hatte in dieser Nacht im Internet gestöbert und hatte Informationen über das Geschäft eingeholt. Es waren Informationen über die Sicherheit, und über die Qualität das Geschäftes. Mit der Qualität der Produkte war er zufrieden. Die Sicherheitsvorkehrungen waren zwar gut, aber nicht unüberwindbar. "Ich müßte nach mal die Alarmanlagen sehen.", sagte John als ihn Harry ansprach. "Es läßt sich alles manipulieren. Man muß bloß wissen, womit man es zu tun hat." Harry nickte: "Das ist zweifellos richtig." Harry, John und Johns Freundin Verena fuhren zu dem Geschäft, das John genannt hatte. Verena hatte kurzes Haar. Sie war mit 1,80 Meter ziemlich groß aber sehr schlank. Sie betraten das Geschäft. Der Verkäufer musterte sie neugierig. John hatte er schon einmal gesehen. Aber er wußte nicht mehr wann, das war und unter welchen Umständen. "Guten Tag, kann ich etwas für Sie tun?" fragte der Verkäufer. John drehte sich zu ihm um: "Wir möchten PCs für unsere Gruppe kaufen. Ich brauche einen Rechner mit Leistung, einige meiner Freunde wollen nur etwas spielen. Was können Sie mir empfehlen?" Der Verkäufer schaute ihn mißtrauisch an: "An was für Rechner dachten Sie?" John lächelte und nannte ihm eine ganze Reihe von Daten, die zeigten, daß er sich auskannte. Der Verkäufer lächelte nur: "Gute Wahl. An welche Software dachte Sie, wenn ich fragen darf." "Windows 95 und Office 97 hatte ich mir vorgestellt. Allerdings originalverpackt. Ich will alles selbst installieren." "Wann wollen Sie die Ware haben?" fragte der Typ. "Ich brauche einige PCs. Wie viele haben Sie auf Lager?" Der Mann schaute ihn neugierig an. "Warum interessiert Sie das?" fragte er. John schaukelte einige Male hin und her. "Nun," sagte er, "Es ist möglich, daß ich in naher Zukunft plötzlich Computer benötige. Das kommt auf meine Freunde an. Die Frage ist nur, wie viele Sie dann binnen weniger Zeit besorgt bekommen." Der Mann lächelte: "Solange das Geld stimmt, bekommen Sie alles. Wir waren so wie so gerade dabei, unseren Lagerbestand zu erfrischen. Warum nicht ein paar mehr." Der Typ lächelte John an. "Das hört sich gut an. OK, dann auf Wiedersehen." Die drei verließen das Geschäft.
Draußen schauten Verena und Harry John neugierig an. "Was hast Du vor?" frage Harry, "Sag uns das mal!" John lächelte. "Der Schleimscheißer. Kein Mensch braucht solche PCs. Viel zu lahm. Die haben nichts drauf. Entweder verarscht er seine Kunden, was ich annehme, oder er hat wirklich nichts drauf. Kein Mensch kauft heute noch solche Computer. Seine Preise sind für die Waren zu hoch. Aber jetzt zum Geschäft. Habt Ihr gesehen, was auf seinem Schreibtisch lag. Ein Zettel, auf dem ein Datum vermerkt ist. Scheint was großes zu sein. Sonst hätte er es nicht drei Mal unterstrichen. Ich schaue heute Nacht mal in seine Datenbank ein. Vielleicht finde ich ja etwas." Harry stutzte: "Das kannst Du?" fragte er. John blickte ihn enttäuscht an. "Traust Du mir nichts zu? Ich habe schon Codes geknackt, als Du noch mit Bausteinen gespielt hast. Kein Problem Mann." Harry lächelte. Obwohl er ein Jahr älter war als John konnte er ihn verstehen. John war aber auch der einzige, der so mit Harry reden durfte. Jeden anderen hätte er zusammengeschlagen. Aber nicht John. Nein. John war ein Muskelpaket. Gegen ihn hatte er keine Chance, aber er wollte seinen guten Freund auch nicht verlieren. In einer körperlichen Auseinandersetzung wäre Harry John unterlegen gewesen. Das zeigt allein der Sport in der Schule. In Bezug auf Kraft oder Schnelligkeit konnte es niemand mit John aufnehmen.
Die drei fuhren zum Treff, wo sich während dessen der Rest der Gruppe zusammengefunden hatte. Jessica war mit ihrer Freundin Ricky gekommen. Die beiden waren oft wie Pech und Schwefel. Sie kannten sich aus dem Sandkasten. Ricky hatte lange blonde Haare und war durchschnittlich groß. Sie und Jessica waren immer zusammen gewesen. Nichts hatte sie je trennen können. Harry schaute die beiden an und trat auf Jessica zu. Jessica antwortete mit einem Lächeln. Küsse durchdrangen ihre Haut. "Was ist los, Harry?" fragte Jessica. "Du wirkst so angespannt." Sie faßte seine Schulter und massierte sie leicht. "John sagt, es ist kein Problem da. Also mache ich mir auch keine Sorgen. Warum auch?" Jessica lächelte ihn an, worauf Harry nickte. "OK. Jungs und Mädels. Was brauchen wir für den Bruch. Machen wir es doch mal wie die Olsenbande." Alle im Raum lachten. "Wir benötigen einen Lieferwagen für die PCs. Ich will die nicht schleppen. Kümmere ich mich drum. Weiterhin benötigen wir Waffen, um uns eventuell gegen Bullen zu verteidigen. Wer besorgt Messer, Schreckschuß und so weiter?" Er blickte sich in der Runde um und erblickte Franz. "Ich würde sagen, die besorgst Du? Mit Caro", das war seine Freundin Caroline, "seit Ihr ein gutes Team." Er blickte weiter in der Runde herum. "Zum Schluß brauchen wir noch ein paar Karren, als Blockadewagen, die uns die Bullen vom Hals halten. Den Rest besprechen wir später." Harry blickte sich in der Runde um, ob jemand Einwände gegen seinen Plan hatte. Jetzt brauchte man keine Angst vor ihm zu haben. Solange alles noch in der Planung war, konnte man mit Fehlern zu ihm kommen. Schlimmer war es, wenn das Projekt bereits lief und deshalb alles gefährdet wurde. Dann konnte er wild werden. Aber jetzt nicht. Jetzt hatte er ja keinen Grund dazu." Keiner seiner Leute widersprach ihm. "Ich werde bis morgen versuchen, mehr Infos über den Laden zu bekommen.", fügte John an. Alle nickten. Harry lächelte erleichtert. "Die Autos brauchen wir bis Sonnabend zehn Uhr. Nicht zu früh. Die lassen sich so schlecht verstecken. Den Rest, wann Ihr Zeit habt. Aber macht nicht auf den letzten Drücker. Ich kümmere mich mit Jessica um den LKW." Alle nickten wieder. John streckte seine rechte Hand in die Mitte des Raumes, worauf alle zum Zeichen ihrer Zusammengehörigkeit ihre Hand darauf legte. "Gut. Wir treffen uns am Montag nach der Schule zum nächsten Lagebericht. Falls Euch die Skorpions über den Weg laufen, vermeidet jede Provokation. Auch wenn es schwer ist. Wir müssen nächste Woche vollzählig sein. Wenn einer versagt, scheitert das Unternehmen. Also haltet Euch daran." Alle nickte. Sie spürten den Ernst in Harrys Stimme. Schließlich mußte er in den Bau, wenn etwas schief lief. Die meisten anderen würden mit einer Bewährung davon kommen. Aber was waren die Snakes ohne Harry? Nichts. Harry verabschiedete die Snakes mit dem Hinweis auf die Disco, in der er die nächste Nacht verbringen sollte. Der Trupp verließ den Beratungskeller, löste sich langsam auf und fuhr nach hause. Es war Mittagszeit. Auch Jessica mußte nach hause. Ihr Vater mußte bald nach hause kommen, und er wollte sich etwas warmes auf den Tisch. Harry brachte sie bis zu ihrer Haustür und ließ sie dann allein. Jessica öffnete die Tür. In dem Haus war es so leer wie immer. Sie ging in die Küche und band sich die Schürze um. Am Waschbecken wusch sie sich die Hände und holte zwei Reisbeutel und chinesisches Zutaten aus dem Schrank. Ihr Vater Hartmut liebte Chinesische Küche. Sie stellte eine Pfanne auf die Herdplatte und füllte sie mit dem Gemüse. Mit viel Liebe versah sie das ganze mit verschieden scharfen und weniger scharfen Gewürzen und ließ es heiß werden. Sie deckte den Tisch für zwei Personen. Gerade als sie damit fertig war, klingelte es an der Tür. Jessica schaute auf die Uhr. "Pünktlich, wie immer.", stellte sie fest. Sie ging zur Tür und öffnete ihrem Vater. Er kam herein und ließ sich am Tisch nieder. "Na, wie war der Sonnabend für Dich?", fragte er. Jessica zuckte die Schultern. "War gestern mit Harry im Kino. Heute mit Ricky ein bißchen durch die Geschäfte gegangen. Nichts besonderes." Ihr Vater nickte. "Kenn ich." Dann machte er sich über das Essen her. Zwischendurch erzählte er von der Lehrerkonferenz, an der er als einfacher Mathelehrer teilnehmen mußte. Jessica nickte ab. Sie mochte ihren Vater sehr gerne, aber nur, wenn er als Freund zu ihr sprach. Wenn er von seinem Beruf erzählte, oder ihr die Hausaufgaben abnahm, war er ganz anders. Dann mochte sie ihn nicht. Aber in letzter Zeit war er selten in diese Rolle geschlüpft. "Ich will heute Abend noch ins Theater. Ich komme also erst später.", sagte Hartmut nachdem er aufgegessen hatte. Sie räumten gemeinsam ab und stellten das Geschirr in der Spülmaschine." Dann verließ Hartmut auch schon wieder die Wohnung. Im Haus wurde es ruhig. Jessica setzte sich an den Küchentisch zurück. Ihre Augen waren geschlossen, doch sie schlief nicht. Sie genoß die Stille. Sie genoß es, mal alleine zu sein, und denn noch hatte sie Angst davor. Sie saß eine ganze Weile so am Küchentisch. Ihr langes schwarzes Haar hatte sie in ihr Gesicht fallen lassen. Es war pechschwarz. Ihr Gesicht hatte noch immer kindliche Züge. Ihre Haut war sehr glatt und schimmerte weiß. Warum war dieses Mädchen so traurig? Während sie dort saß, öffnete sich die Haustür, und Harry trat herein. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen. "Harry?" fragte Jessica, um sich zu vergewissern. "Ja, ich bin‘s. Schatz." antwortete er. Er kam zu ihr und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch. Jessica schaute ihn an. Ihr Blick war nicht zu deuten. Er schien traurig und voller Sorge, andererseits aber von Freude erfüllt. Harry achtete aber nicht darauf. Er drückte Jessica einen Kuß auf den Mund und zog sie vom Stuhl hoch. "Komm. Ich möchte spazieren gehen." forderte er sie auf. Jessica schaute ihn ernst an. "Harry. Ich muß mit Dir reden.", sagte sie. Harry lachte nur. "Harry.", sagte sie und faßte seinen Arm. "Was ist?" fragte Harry genervt. Jessica hatte Angst. Sie hatte Angst vor Harrys Reaktion. Darum wandelte sie ihren Satz etwas ab. "Du weißt, daß ich Dir nicht sagen kann, was Du zu tun und zu lassen hast. Aber ich sage, daß Du einen Fehler begehst, wenn Du den Diebstahl durchführst. Max ist ein Schwerverbrecher. Du weißt, daß er mit Waffen und Drogen handelt. Ich mag nicht, wenn Du mit solchen Männern Geschäfte machst. Bitte überlege es Dir noch mal ..." Harry unterbrach seine Freundin: "Es ist wohl war, daß Du nichts zu sagen hast. Ich würde auch niemals auf eine Frau hören." Er drehte sich um und riß Jessica mit sich. Er drückte sie an die Tür und schaute ihr in die Augen. Seine Lippen berührten ihren Hals. Jessica ließ es geschehen. Solange Harry beim Hals blieb, war es ihr egal. Schlimmer wurde es, wenn er tiefer ging. Anfangs hatte es ihr auch Spaß gemacht, aber was Harry seit letzter Zeit betrieb, war nicht mehr schön. In solchen Augenblicken haßte sie Harry. Aber sie hatte keine Chance, ihm zu entgehen. Bei den Snakes war keiner, der Harry davon abhielt. Mic und den restlichen Skorpions war sie egal. Jessica hatte für sie keinen Wert. Sie war gut in der Schule, das war aber auch alles. Jessica war zu Harrys Symbol für Macht geworden. Er, der King, besaß das schönste Mädchen der Klasse. Mehr war Jessica nicht mehr für ihn. Manche Klassenkameradinnen beneideten sie um Harry. Er drückte Stärke, Kraft und Entscheidungskraft aus. Aber genau das war es, was er Jessica entzog. Sie hatte nicht mehr die Freiheit, das zu tun, was sie wollte, sondern war immer ein Anhängsel vom großen King. "Bitte hör auf!" bat Jessica. "Jetzt nicht!" Harry löste sich und schaute seine Freundin an. "Was soll das?" fragte er. "Bin ich Dir nicht mehr gut genug. Was willst Du? Ich habe Dir alles gegeben. Ohne mich würdest Du noch immer bei Deiner Mutter unterm Tisch sitzen. Du wärst ein nichts." Er holte drohend mit der Hand aus. Jessica wich zurück. "Bitte geh jetzt, bevor Du einen Fehler machst.", sagte Jessica ernst. Harry schaute sie lange an. Dann ließ er seine Hand sinken. Haß erfüllte ihn. Jessica zitterte gegen ihren Willen vor Angst. Langsam ließ er sie los. "Ich glaube, Du weißt nicht, wer ich bin?" fragte Harry im Flüsterton. "Für heute sei Dir verziehen. Aber wenn Du mich weiter zum Narren halten willst, lege ich Dich um. Du gehörst mir. Und das Geschäft mit Max findet selbstverständlich statt. Auch wenn Du nicht willst. Ich warne Dich Jessica. Noch mal kommst Du mir nicht davon." Er ließ sie los und drehte sich um. Wortlos verließ er das Haus. Jessica blieb am Tisch zurück. Sie grub den Kopf in die Hände und weinte. Sie weinte lange. In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Ihr Kissen war feucht als sie am Morgen aufstand. Langsam ging sie in die Küche und zum Kühlschrank. Nach einem kurzen Blick hinein, schloß sie ihn wieder. Sie setzte sich an den Küchentisch. In der Kanne auf dem Tisch entdeckte sie kalten Kaffee. Also war ihr Vater zu hause gewesen. Sie goß sich eine Tasse davon ein. "Kalter Kaffee!" dachte sie und nahm einen großen Schluck. Sie spülte mit der Flüssigkeit ihren Mund durch und schluckte ihn herunter. Langsam ging sie in ihr Zimmer zurück und trat an ihren Schrank. Sie öffnete ihn und holte aus der hintersten Ecke eine CD hervor. Es war eine CD von R.E.M., die ihr Mic einmal geschenkt hatte. Vor langer Zeit. R.E.M. spielte traurige Songs, die sie zu solchen Anlässen brauchte. Diese ganze Hippi-Musik, die Harry immer hörte, fand sie manchmal so schrecklich. Das war nur Geschrei und Bumm Bumm. Jessica liebte melodische Songs. Ob Teckno oder Rock, das war egal, aber Melodie war wichtig. Harry hatte für so etwas keinen Kunstverstand. Nein, was Musik betraf, war er eine Null. Und das allein Teckno keine Musik war, wußte sie schon lange. Auch wenn es ihr keiner glauben wollte. Sie stellte den CD-Player auf Wiederholung. Wenn die CD endete, begann sie also automatisch wieder von vorne. Jessica holte ihre Schulmappe hervor und begann mit den Hausaufgaben. Als die damit fertig war, nahm sie sich einen französisches Fachbuch und las es ihm Original. Jessica liebte die Sprache. Was sie las? Sie laß über die Metamorphosen im Tierreich. Ein Gebiet, was sie vor kurzem im Biologieunterricht behandelt hatten. Warum Französisch? Nun, sie liebte diese Sprache. Sie liebte überhaupt Fremdsprachen. Englisch sprach sie fließend. Irgendwann wollte sie mal nach England oder Frankreich, um dort zu leben. Irgendwann, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hatte. Aber wenn interessierte das jetzt? Eigentlich interessierte sich kaum jemand für sie. Oder? An diesem Abend ging sie früh ins Bett und schlief auch rasch ein.
Der Morgen war noch jung, als Jessica erwachte. Sie stand auf und ging ins Bad. Langsam ließ sie ihr Nachtkleid an sich hinabgleiten. Obwohl Jessica es selbst nicht mehr glaubt, sah sie wunderschön aus. Ihre Schenkel und Arme waren zwar etwas dünn und schienen gebrechlich, aber das erkannte sie nicht. Jessica war wirklich zu dünn. Auch wenn sie es oft bestritt. Sie behauptete dann immer das Gegenteil. Jessica stieg unter die Dusche und stellte das Wasser an. Ein kalter Strahl traf sie im Gesicht. "Scheiß Hausbesitzer!", fluchte sie und durchwühlte ihre Haare bis sie richtig naß waren. Dann griff sie nach dem Schampo und begann, es sich in die Haare zu massieren. Sie spülte den Schaum mit kaltem Wasser ab und wusch ihre anderen Körperteile. In der Hüfte konnte man eine Narbe entdecken. Sie stammte von einem Kampf zwischen den Snakes und den Skorpions, bei dem sie schwer verletzt worden war. Aber das lag schon zwei Jahre zurück. Mic hatte ihr damals das Messer in die Seite gerammt. Sie war einige Zeit im Krankenhaus gewesen. Diese Narbe war verheilt, aber eine andere war noch tiefer und schmerzhafter als alle anderen Narben zusammen. Sonst war an Jessica nichts ungewöhnliches zu entdecken. Sie stellte das kalte Wasser ab und griff nach ihrem Handtuch. Langsam trocknete sie sich ab. Auf leisen Sohlen schlich sie sich in ihr Zimmer zurück. Dort zog sie sich an und trocknete ihr Haar. Sie ging in die Küche und schnitt sich Brot ab. Auf dieses schmierte sie sich dünn Marmelade und goß sich ein Glas Milch ein. Beides vertilgte sie mit Genuß. Es war jetzt sechs Uhr. Um halb Acht mußte sie in der Schule sein. Für den Weg brauchte sie gewöhnlich eine halbe Stunde. Also war noch eine Stunde Zeit. Sie griff sich ihr französisches Buch und las. Um halb Sieben stand Hartmut auf. Er kam knurrend aus seinem Zimmer. "Morgen, Jessica", sagte er kurz und verschwand im Bad. Jessica grüßte zurück. Dann vertiefte sie sich wieder in ihr Buch. Ihr Vater wusch sich und kam kurz darauf angezogen aus dem Bad. Auch er hatte einen harten Tag vor sich. Seine Schüler schrieben in diesen Tagen Matheklausuren, die er alle kontrollieren mußte. Er ging zum Kühlschrank und holte sich Wurst und Käse heraus. Er schnitt sich Brot ab und aß. Jessica legte das Buch aus der Hand und faßte ihre Schultasche. Sie hatte heute 2 Stunden Deutsch, eine Stunde Mathe, eine Geographie und zwei Englisch. In Deutsch hatte sie so wie so nie Probleme und Geologie? Über das Stoffgebiet hatte sie gerade in einem englischen Buch gelesen. Auch kein Problem. In der Straßenbahn traf Jessica ihre Freundin Ricky. "Hy Jessi.", sagte Ricky und lächelte sie an. Jessica nickte und lachte zurück. Die beiden verstanden sich ohne Worte. Zumindest, was dieses betraf. Die beiden fuhren zur Schule und gingen in ihren Klasseraum. Einige Mitschüler waren schon dort. Zu den Skorpions zählten Alex, Cindy, Emil, Gabi, Ludwig, Norbert, Paul, Sigi, Steffan, Udo und Werner. Andy war die Kontaktperson zwischen beiden Gruppen. Zu den Snakes gehörten unter anderen Dirk, Caroline, Franz, Matthias, Oskar, Ricky, Theo, Verena, Jessica und Harry. Die meisten waren noch mit ihren Wochenenderlebnissen beschäftigt. Pünktlich mit dem ersten Klingelzeichen betrat Frau Rheinberg den Klassenraum. Jessica möchte sie gerne. Sie war so natürlich. Sie war nicht so, wie die anderen Lehrer. Sie machte manchmal einen Witz, aber konnte auch ganz ernst sein. Die meisten Schüler respektierten sie. Sie kannten sie genau. Frau Rheinberg hatte nie geschrien. Wenn sie normal sprach, war es ernst genug. Wenn sie flüsterte, dann lachte keiner. Aber sonst war sie sehr nett und machte auch gerne jeden Spaß mit. Nur mußte man wissen, wie weit man bei ihr gehen durfte. Jessica setzte sich auf ihren Platz neben Harry. Der Deutschunterricht begann. Das Thema war eine Erörterung. Es ging um irgendeine Geschichte, in der der eine dies, der andere das getan hatte. Jessica mochte Erörterungen. Harry hingegen neben ihr, der mochte sie nicht. Er legte seinen Arm auf Jessicas Stuhllehne. Jessica achtete nicht darauf. Frau Rheinberg schrieb ein paar Grundrichtlinien an die Tafel. Dann drehte sie sich um und schaute die Klasse an: "Wer möchte uns erklären, was in eine Einleitung alles hinein gehört?" Jessica schaute sie erwartungsvoll an. Harry drehte sich um, um mit Matthias hinter sich zu reden. "Harald. Wie ist so eine Einleitung aufgebaut?" fragte Frau Rheinberg ernst. Ihr Lächeln verschwand. Harry ignorierte sie. "Ich weiß nicht Herr Klein, wie viele Klassen Sie noch wiederholen möchten. Aber in meinem Fach bestehen Sie. Ich kann mir heute Nachmittag auch noch Zeit nehmen, wenn Sie in der Stunde nicht aufpassen wollen. Ich habe viele Aufgaben zu hause." Harry drehte sich nach vorne. Er war einmal bei dieser Dame zu hause gewesen. Damals nachdem er so einen Vollidioten verdroschen hatte. Nie wieder. Das brauchte er nicht noch mal. Harry betete seine Texte herunter. Dann ließ ihn Frau Rheinberg endlich wieder in Ruhe. Für Jessica verging diese und die nächste Stunde wie im Flug. Bei Frau Rheinberg machte ihr Deutsch Spaß. Aber nach der ersten großen Pause in der dritten Stunde, hatten sie Mathematik. Mathe bei Herrn Mendal. Mendal war ein Feigling. Harry hatte immer einen guten Draht zu ihm. Nicht zuletzt, weil er nur das tat, was Harry von ihm verlangte. Harry hatte ihn einmal am Kragen gehabt. Seitdem hatte er nie wieder Probleme mit ihm. Mendal konnte ein Arschloch sein und für Harry tat er alles. Jessica saß in seinem Unterricht und schaute aufmerksam zu. Ihre Augen waren auf den Lehrer gerichtet, den sie über alles haßte. Mendal beachtete sie nicht. Sie brauchte sich nicht zu melden. Sie kam so wieso nicht dran. Mendal konnte sie auch nicht leiden. Harry hatte Mendal verboten, Jessica schlechte Zensuren zu geben. Also bekam sie eben gar keine mehr. Nur noch in den Arbeiten. Jessica löste die gestellten Aufgaben und schrieb einige Formeln in ihr Heft. Sie setzte ein paar Zahlen ein und begann zu rechnen. Es waren Zahlen, von denen Mendal noch nie gehört hatte. Es war Stoff der 12. bis 13. Klasse im Abitur. Mathestudium. Jessica rechnete die ganze Stunde und schloß ihr Heft bei Klingel-zeichen. Hofpause. Danach Geologie und zwei Stunden Englisch. Geologie wäre ganz interessant geworden, wenn Harry nicht plötzlich aufgestanden wäre, Jessica bei der Hand genommen und mit ihr das Klassenzimmer verlassen hätte. Herrn Komorr interessierte sich dafür nicht. Ihm war es zwar nicht egal, aber was blieb ihm anderes übrig. Harry machte so wie so, was er wollte. Harry zwängte Jessica an die Wand. Sie spürte seine Küsse am Hals. Sie spürte, wie er sich an ihr festsaugte, und es gefiel ihr gar nicht. "Harry.", sagte sie leise. "Bitte hör auf." Doch Harry hörte nicht auf sie. "Bitte hör auf. Der Stoff interessiert mich." Er löste sich von ihr und schaute sie verwundert an. "Was ist den daran gut?", fragte er. "Das kannst Du doch total vergessen." Jessica löste sich und ging in die Klasse zurück. Harry fluchte. Er war es nicht gewohnt, daß sich jemand seinem Willen widersetzte. Und schon gar nicht Jessica. Er ließ sie gehen und verschwand aufs Klo. Jessica betrat den Klassenraum. Fragende Blicke trafen sie. Herr Komorr setzte seinen Unterricht fort. Er lächelte und versuchte seinen Stoff etwas lustiger zu vermitteln. Einige seiner Schüler gingen auf ihn ein und machten mit. Andere schalteten ab. Herr Komorr sagte nichts dazu. Es war ihm lieber als wenn sie störten. Die Stunde verging rasch. Harry wartete draußen vor der Tür. Er hatte keine Lust auf Geo und Jessica würde er sich später kaufen. Als das Klingelzeichen ertönte, stand Harry in der Tür. Er ging gelassen auf seinen Platz und starrte seinen Lehrer an. Dieser achtete nicht auf ihn. Mic war aufgestanden und in Richtung Klassenmitte gegangen. Hier stieß er auf Harry. "Erlaub Dir nicht zuviel.", sagte er und schaute seinen Klassenfeind an. "Verpiß Dich Du Zombi." antwortete Harry. Mic lachte und deutete mit dem Kopf nach draußen. Harry schüttelte den Kopf. "Habe im Moment keinen Hunger. Scheiße schmeckt ja nicht. Mehr bist Du nicht." Mic lächelte: "Sprichst Du immer so von Dir, Glatzkopf? Verzieh Dich bloß, bevor ich Dir die Fresse poliere." Wenn man dies hörte, konnte man meinen, es wäre alles nur Kinderspiel. Aber das war es durch aus nicht. Es war Krieg zwischen den beiden. Längst ging es nicht mehr nur um Frauen. Es ging auch um Macht. Es galt, die stärkstes Gruppe an der Schule zu sein. Wer das war, den respektierte man. Wer unterlag, auf den spuckte man. Ein endloser Kampf, der aber auch Regeln hatte. Jessica verließ den Klassenraum und ging in Richtung Toilette. Warum mußten sich die beiden immer in der Haaren liegen? Jessica konnte an dieser Frage verzweifeln. Nur gut, daß sie nur noch zwei Stunden hatten. Danach würde sie nach hause fahren und lesen können. Oder? Die letzten beiden Stunden vergingen wie ihm Flug. Frau Warner hatte ein Thema, das Jessica interessierte und die beiden Kampfhähne waren auch ruhig. Mit dem letzten Klingelzeichen atmeten alle auf. Harry verließ als erster die Klasse. Er hatte es eilig. John folgte ihm auf dem Fuße. Die beiden steuerten in eine stille Ecke und unterhielten sich dort. Jessica sah, wie Harry John ein Bündel Geld in die Hand drückte. Was sollte er nur tun? "Hoffentlich nichts schlimmes", dachte Jessica. Aber wann sollte Harry schon mal etwas vorhaben, was nicht gefährlich war. Harry war ja so starrköpfig. Und John? John war Harrys bester Freund. Ihre Freundschaft hatte sich vor zwei Jahren aufgebaut. Damals war Harry das erste Mal sitzen geblieben. In John hatte er einen Freund gefunden. Aber auch wenn John mit ihm im nächsten Jahr die Klasse nochmals wiederholt hatte, war John nicht doof. Nein, ein langer Krankenhausaufenthalt hatte ihn zu der Wiederholung gezwungen. John war der Computerfreak in der Gang. Was immer mit dem Computer zu tun hatte. John wußte es. Diesbezüglich war er ein Genie. John steckte das Geld in die Tasche und lächelte. Harry schaute ihn kurz an und blickte zu Jessica. Als diese dies bemerkte, wandte sie sich ab. Mit Harrys schmutzigen Geschäften wollte sie nichts zu tun haben. Aber das hatte sie, ohne daß sie es ändern konnte. Harry löste sich aus der Ecke und ging zur Klassentür. Jessica war in der Zwischenzeit schon unterwegs auf den Schulhof. Ihr Freund folgte ihr und überholte sie bei dem Eingangstor der Schule. Unsanft faßte er sie am Arm. "Jessica. Ich muß mit Dir reden.", sagte er laut und deutlich. Jessica blickte kurz zu Boden und ihm dann ins Gesicht. "Ich will nicht mehr. Harry. Laß mich in Ruhe!" Ihre Muskeln war verkrampft. Es gehörte einiges dazu, Harry dieses ins Gesicht zu sagen. Harry stellte sich jedoch taub. Er kam auf Jessica zu und faßte sie an den Oberarmen. Er drückte ihr einen Kuß auf den Mund. Das Jessica sich dagegen zu wehren versuchte, beachtete er nicht dabei. Mic und seine Gang die Skorpions kamen auf das Tor zu. Mic hatte den Kopf hoch erhoben. "Wir sprechen uns noch ‚King‘.", sagte Mic im Vorübergehen. Harry kümmerte sich nicht um ihn. Er ließ Jessica los und sagte: "Na dann bis heute Abend." Hierauf ließ er sie stehen. Sowohl die Snakes als auch die Skorpions verschwanden. Der Schulhof wurde menschenleer. Jessica sank langsam am Schultor zusammen. Ihr "Freunde" gingen ihrer Wege. Selbst Ricky war gegangen. Minuten vergingen. Noch langsamer als sie zusammengesunken war, stand Jessica schließlich wieder auf. Sie griff ihre Schultasche und schleifte diese in Richtung U-Bahn. Sie stieg in den Zug ohne aufzublicken und stieg eine Station später wieder aus. Wie konnte Harry ihr das antun? Warum war er so gemein zu ihr? Das waren die Fragen, die sich Jessica immer wieder stellte. Warum nur. Das Stück vom Bahnhof bis zu ihrer Wohnung lief sie wie jeden Nachmittag. Zu hause angelangt, schloß sie leise die Tür auf. Sie wußte zwar, daß niemand da sein würde, aber sie wollte trotzdem nicht, daß sich vielleicht irgend jemand im Haus gestört fühlte. So ging sie leise in die Küche. Die Küche war aufgeräumt. Alles lag an seinem Platz, so wie sie sie am Morgen verlassen hatte. "Wo ist Vater heute?" fragte Jessica sich selbst. Ihr Blick fiel auf einen Zettel auf dem Küchentisch: "Habe heute Elternversammlung. Komme spät. Sei brav. Vati." "Manchmal wünschte ich, er wäre kein Lehrer geworden. Aber man kann es sich ja leider nicht aussuchen. ‚Lehrers Kinder...‘. Aber was soll’s." Jessica ging in ihr Zimmer und legte sich auf ihr Bett. Sie griff ihr Tagebuch und begann darin zu lesen. Manche Sachen hätte sie am liebsten zerrissen, weil sie meinte, irgendwelchen Unsinn geschrieben zu haben. Andere Sachen konnte sich nachvollziehen. Aber sie tat es nicht, weil es nichts brachte. Sie hatte es schon oft getan, aber hinterher hatte sie es jedesmal bereut. Wem geht das nicht so. Aber jetzt war das Buch schon ziemlich dick, daß ihre Gefühle beschrieb. Jessica weinte beim Lesen. Sie weinte viel in letzter Zeit, und es tat ihr gut. Sie schlüpfte unter ihre Decke und las weiter. Irgendwie fühlte sie sich schwach. Ihr Gesicht war blaß und sah krank aus. Jessica war kalt, obwohl es in der Wohnung eine ausreichende Temperatur hatte. Sie kroch daher unter die Decke. Gegen sechs klingelte es an der Tür. Voller Schreck zuckte Jessica zusammen. Blitzschnell verschwand ihr Tagebuch unter dem Bett. Es sollte niemand wissen, was sie hier schrieb. Langsam stand sie auf, da klingelte es schon das zweite Mal. Jessicas Gesicht war noch blasser geworden. "Ich werde sagen, daß ich jetzt keine Zeit habe, lernen muß. Ich werde sagen, daß ich krank bin." nahm sie sich vor, als sie die Tür öffnete. Draußen stand wie erwartet Harry. "Hallo Jessica.", sagte er und trat ungebeten ein. "Ich glaube, wir müssen miteinander reden." sagte er, ohne sie anzusehen. Jessica nickte, für ihn nicht sichtbar. "Ich fand es heute nicht gut." sagte Harry und schaute kurz auf. Jessica begann den Satz: "Ich auch nicht, aber...", aber Harry unterbrach sie. Er wandelte das Ende ab und sagte: "Es tut Dir leid. Ist schon OK. Wir sind doch schon beide erwachsen. Zu dem Bruch. Du könntest ruhig etwas mehr Begeisterung zeigen. Schließlich geht es auch um Dich." Jessica wurde rot vor Wut. Selten hatte man sie so erleben können. Sie brüllte regelrecht: "Hör mal zu Harald. Du hast keine Ahnung, was ich will. Für Dich bin ich nur ein Besitzgegenstand. Etwas das Dir zeigt, daß Du Macht hast. Wie sagtest Du damals. Das schönste Mädchen der Schule. Weißt Du wie ich mir vorkomme? Wie das letzte Stück Dreck. First Lady, hä? Ich sag Dir was Harald, Du hast keine Ahnung von mir. Du weißt nichts. Gar nichts. Und dann Dein ekelhaftes Gegrapsche. Meinst Du es ist angenehm, wenn Du mir vor der ganzen Schule zwischen die Beine gehst. Ich finde es ekelhaft. Du hast nichts mehr von der Zärtlichkeit, die zwischen uns bestand, als ich Dich kennenlernte." Für Harry war dies eine Ohrfeige. Sollte er sich von einer Frau schlagen lassen? Nein, daß hatte er nicht nötig. Er schaute Jessica ernst an und sagte: "Da reden wir ein andermal drüber. Heute laß mich in Ruhe." Er drehte sich um und verließ das Haus. Jessica blieb weinend zurück. Harry fuhr zu John und organisierte mit ihm die Vorbereitungen für den Überfall auf den PC-Schuppen. Jessica legte sich ins Bett und schlief bis zum anderen Morgen. Als sie erwachte und auf die Uhr blickte, schreckte sie hoch. Ihr Vater mußte gleich aufstehen, aber heute war Jessica überhaupt nicht danach. Ihre Decke war schweißgebadet. Sie fühlte sich total entkräftet. Langsam stand sie auf und stolperte ins Bad. Das Spiegelbild schaute sie sich lange an. War sie das wirklich? Wie konnten ihre "Freunde" sie als schön bezeichnen? Ihr Gesicht hatte Falten und war rot. Jessica war heute kalt, obwohl die Temperatur nicht anders als sonst war. Entkräftet griff Jessica zur Zahnbürste und puste sich die Zähne. Ihr wurde schwindelig. Daher mußte sie sich auf einen Stuhl setzen. Langsam putzte sie weiter. In diesem Moment öffnete sich die Badtür und Hartmut stand im Bad. Wie jeden Morgen noch nicht ganz da. Wortlos ging er zur Toilette und entleerte sich gezielt. Dann blickte er auf. "Hier bist Du.", stellte er kurz fest und widmete sich wieder seiner Hose zu. Jessica antwortete nicht. Hartmut stolperte zum Waschbecken, an dem Jessica stand. "Warum bist Du denn noch nicht angezogen?", fragte Hartmut erstaunt. Jessica antwortete nicht, was Hartmut stutzen ließ. Was war mit seiner Tochter los? Er blickte seine Tochter an und sagte: "Siehst krank aus. Hast Du mal Fieber gemessen?" Jessica schüttelte langsam den Kopf. "Dann tu‘ das mal. Ich rufe in der Schule an." Jessica schlurfte ins Schlafzimmer und holte ein Fieberthermometer aus dem Schrank. "Fast 40 Grad Fieber.", stellte sie danach fest. Hartmut nickte. "Geh zurück ins Bett! Ist das Beste. Ich mach Dir was zu essen und koche Dir Tee." Hartmut ging in die Küche zurück und setzte eine große Kanne Tee auf. Es war Kamillentee, den Jessica eigentlich haßte. Aber etwas anderes hätte sie jetzt nicht vertragen. Hartmut holte Zwieback aus dem Schrank und stellte ihn Jessica hin. Dann machte er sich fertig. Angezogen setzte er sich wieder neben Jessica. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß er gleich los müsse. "Papa. Ich muß mit Dir reden... " begann Jessica, aber Hartmut unterbrach sie, indem er sagte: "Jetzt nicht Schatz. Ich muß jetzt gleich zur Arbeit." Er stand auf und faßte noch einmal Jessicas warme Hand. Dann verließ er die Wohnung in Richtung Schule. Jessica blieb mit ungutem Gefühl zu hause. Was würde Harry sagen, wenn sie heute nicht da war? Was würden die Mädchen erzählen, wenn sie es erfuhren? Jessica griff nach dem Tee: "Widerliches Zeug", dachte sie, während sie schluckte. "Aber was hilft es." Sie drehte sich im Bett um und versuchte zu schlafen. Doch irgendwie konnte sie nicht. Ihre Gedanken waren bei Harry. Sie hatte den Streit vom gestrigen Tag noch immer nicht verarbeitet. Harry selbst wartete an diesem Morgen wie immer mit der Gang vor dem Schultor. Er sah an diesem Morgen zerknirscht aus und hatte schlechte Laune. Aber die stammte weniger von Jessica. Vielmehr stammte sie von seinen Kumpels, die ihre Aufgaben bezüglich dem Überfall nicht getan hatte. Caroline stand jetzt neben Harry. Sie hatte einen Rucksack auf dem Rücken und ließ ihre Haare im Wind wehen. Ihr Freund Franz stand auf der anderen Seite. Er lächelte Harry an: "Na, hat sie Dich vergessen? Na ja, nehme es ihr nicht übel." Harry blickte seinen Freund an. "Das ist kein Spaß. Das weißt Du. Du kannst ja glücklich sein. Du hast eine so gute und schöne Partnerin." Er blickte zu Caroline. Diese spitzte die Lippen als wenn sie ihn küssen wollte. Harry lächelte. "King.", sagte Caro, "Wir haben die Messer besorgt. Was sollen wir als nächstes tun?" Harry lächelte. Am liebsten hätte er Caro in die Arme geschlossen. "Das ist das erste positive, daß ich heute höre. Gut. Äh." Er mußte kurz überlegen, eher er weiter sprach. "Gut. Dann wollen wir mal in den Unterricht." Er drehte der Straße den Rücken zu und ging in das Schulgebäude. Sie hatten jetzt Mathe bei Mendal. Mic war schon im Klassenraum, als Harry eintrat. Er schien sich nicht um ihn zu kümmern, sondern war in einem Gespräch mit seinen Freunden. Trotzdem hatten beide öfter Blickkontakt, als es eigentlich zu erklären war. Harry deutete mit dem Kopf nach draußen, worauf er aufstand. Mic löste sich ebenfalls aus seiner Gruppe und folgte ihm. Beide verließen den Klassenraum. Der Flur draußen war leer. "Was ist mit Jessica?" fragte Harry. "Hast Du irgendwas angestellt?" Mic blickte ihn an. In seinen Augen konnte man Abneigung gegen Harry, aber zugleich auch Neugier erkennen. "Ich faß doch Jessica nicht an. Ich bin doch nicht verrückt. Ich habe sie einmal geschlagen. Nie wieder." "Dafür hat sie Dich verlassen. Schwamm drüber. Wenn Du sie siehst, kannst Du ihr sagen, daß ich enttäuscht von ihr bin." Mic nickte: "Gut. Wenn ich Dir noch einen Tip geben darf. Laß ihr mehr Freiraum. Den Fehler habe ich gemacht. Du mußt ihr Vertrauen schenken. Sie hatte Dir vertraut. Aber durch unsere ständigen Streitigkeiten drängst Du sie dermaßen in den Hintergrund, daß sie leidet. Das hat sie nicht verdient. Und was Caro angeht. Ich sage Dir, Du verbrennst Dir die Finger, wenn Du glaubst, sie könnte etwas für Dich sein. Caro hat vor nichts und niemandem Respekt. Sie würde Dich benutzen und wegschmeißen." "Woher willst Du das wissen?" fragte Harry. "Du hast doch überhaupt keine Ahnung von Caro. Willst Du sie etwa haben? Ist Dir Lena nicht gut genug? Deine arme Lena." "Laß Lena aus dem Spiel. Sie geht Dich nichts an. Ich führe keinen Kampf um sie. Sie ist mit mir zusammen, weil wir einander lieben, und nicht weil es nur einer tut. Das ist nämlich der Unterschied zwischen uns beiden." Mic blickte Harry in die Augen. "Jessica liebt mich auch!" sagte Harry und drehte sich um. Er ging in die Klasse zurück, während Mic auf die Toilette zu steuerte. Mendal betrat den Klassenraum. Er ging zum Lehrertisch und schaute sich in der Klasse um. "Guten Morgen!", sagte er und öffnete seine Tasche. "Ich denke, wir machen heute ein bißchen Kopfrechnen.", sagte er etwas feige. Caro stand von ihrem Platz auf und trat nach vorne neben Mendal. "Wer möchte an die Tafel?" fragte Mendal etwas verunsichert. Sein Blick viel auf Caro und ihre Brüste. Caro sah, wie er blinzelte. "Kann ich meinem Lehrer einen Gefallen tun?" fragte Caro. Es klang unterwürfig, aber das war es in keiner Weise. Mendal war schwach. Er war verrückt nach Caroline. Was hätte er nicht alles für sie getan? "Ja", sagte Mendal, "das kannst Du. Wo ist den der Rest der Klasse? Wo ist Jessica?" Caro schüttelte ihr Haar und fuhr sich mit der Hand hindurch. "Vergiß Jessica. Ich bin es, daß Sie wollen.", flüsterte Caro leise. Sie kam auf Mendal zu und umfaßte ihn. Franz verfolgte dies argwöhnisch. Am liebsten hätte er Mendal dafür erwürgt. Aber dies ging ja von Caro aus. Sie hatte sich sicher wieder irgendwas ausgedacht, das die erreichen wollte. Er wußte ja, daß alles nur Show war. Aber trotzdem. Dieser Lustmolch. Er trat zu Harry und deutete zu den beide. "Was hat sie vor?" fragte Harry. Sie sahen, wie Mendal schwach wurde. Als sich ihre Lippen den seinen näherten, sagte Harry laut: "Mendal. Ich glaub, wenn Sie weiterhin meine Schulkameradin belästigen, muß ich es dem Direktor melden. Es sei den ... ." Augenblicklich ließ Mendal das Mädchen los. Seine Miene war steif. Was Caro ihm eben geflüstert hatte, durchströmte ihn hingegen mit einem Wohlgefühl, daß ihn Harry vergessen ließ. Es ging um Jessica. Mendal begann seinen Unterricht. Caro setzte sich wieder neben ihren Freund Franz. Dieser schaute sie mit einem Blick an, den jeden anderen erschrecken würde. Aber nicht unsere Caroline Foster. Sie war nicht so. Jetzt war ihr Franz egal. Jetzt konzentrierte sie sich auf den Unterricht. Das heißt, so schien es nur. In Wirklichkeit dachte sie sich schon wieder etwas aus. Die Stunde verging sehr schnell. In der Pause kamen die Snakes und die Skorpions zusammen. "Was sollte das vorhin?" fragte Harry Caroline. Das Gift sprühte ihr aus den Augen. Sie tat freundlich: "Mendal kann uns noch hilfreich sein. Warum, bist Du neidisch?" Harry schüttelte den Kopf. "Nein. Aber, was ich mit Dir besprechen will, ist, was ich mit Jessica machen soll." Caro sah sich nach Frank um. Er stand dicht hinter ihr und konnte sie hören. "Du solltest ihr den Laufpaß geben. Sie bringt Dir doch nichts. Sie ist nur ein Klotz am Bein." Harry nickte, "Da hast Du wohl recht." Caro wendete sich ab. Franz trat zu Harry, der sich zu John drehte. Er wollte ein Gespräch mit ihm beginnen, doch Franz war schneller. "Harry. Ich muß noch mal mit Dir reden. Etwas genervt blickte Harry auf: "Was brennt Dir auf den Nägeln, daß es so wichtig ist, mich zu nerven?" "Ich wollte Dir nur sagen, daß Du mit Caro vorsichtig sein mußt. Du kennst sie. Sie würde alles tun, um Dich, beziehungsweise Deine Macht zu erhalten." Harry wurde rot im Gesicht: "Warum wißt Ihr eigentlich alles besser? Ich bin hier der Chef, und ich sage an, was getan wird. Nicht Caro und auch nicht Du!" Franz tat einen Schritt zurück. "Entschuldige, wenn Du Dich getreten fühlst." Er drehte sich um und ging. Harry drehte sich wieder zu John. "Immer diese Besserwisser. Ja. Wie sieht es aus mit unserem Vorhaben? Bist Du schon weiter gekommen?" Er meinte den Überfall auf den Computerladen. John nickte, sagte aber: "Ich habe jetzt keine Lust, drüber zu reden. Du hast andere Probleme."
Jessica lag bis Donnerstag im Bett und kurierte sich aus. Harry schaffte es in der Zwischenzeit, seine Bande neu zu ordnen und den Überfall perfekt vorzubereiten. Am Freitag Abend fuhr er zu Jessica nach hause. Sie hatten die ganze Woche nicht mehr miteinander gesprochen. Nun stand Harry vor ihrer Haustür. Jessica öffnete und trat sofort einen Schritt zurück. "Was willst Du?" fragte Jessica. Sie war darauf gefaßt, daß Harry sie gleich schlagen würde und hatte Angst. "Ich will mit Dir reden.", antwortete er. "Das letzte Mal hast Du mich geschlagen. Ich will nichts mehr, mit Dir zu tun haben. Bitte geh." Das waren harte Worte, aber Harry reagierte anders, als Jessica es erwartet hatte. Er schlug nicht zu, sondern nickte: "Du hast recht. Ich habe Fehler gemacht. Aber ich will versuchen, sie wieder gut zu machen...." Jessica unterbrach ihn und wiederholte ihren letzten Satz. "Du hast wohl recht. Heute Abend um 12:00 Uhr ist unser Überfall geplant. Tue das, was Du denkst. Ich bin Dir nicht böse, wenn Du nicht kommst. Freuen würde ich mich aber. Die Sache mit Caroline ist vorbei.", sagte Harry, bevor er sich umdrehte und das Haus verließ. Jessica blieb in der Tür stehen. Sie sah auf einmal wieder krank aus. Langsam ging sie in ihr Zimmer zurück. Ganz langsam zog sie sich eine Jacke an und fuhr mit der S-Bahn an den Rand der Stadt. Von dort aus machte sie einen langen Spaziergang durch die Natur. Als es gegen sechs dunkel wurde, machte sie sich auf den Heimweg. Sie hatte sich entschieden. Sie hatte sich entschieden, es noch einmal mit Harry zu versuchen. Zur Verabredeten Zeit trafen sich die Snakes zu ihrem letzten großen Geschäft, wie Harry es ausdrückte. Alle hatten ihre Aufgaben getan und waren jetzt anwesend. Nur John war nicht mit auf die Straße gekommen. Er saß bei sich im Zimmer und hielt ein Walky-Talky in der Hand. Vor ihm stand sein Rechner. Mit sicheren Fingern schaltete er den Computer um 11:45 Uhr ein. Nachdem er einige Tasten gedrückt hatte, erschien das Internetprogramm auf dem Bildschirm. Aus dem Funkgerät fragte man, ob alles klar sei. John bejahte. Er ging online und gab die Adresse des Berliner Polizeidienstes ein. Nach kurzem blättern auf der Homepage fand er einen File, der einen Eingang in das Datennetz erlaubte. Firewall Nummer 1. stand nun vor ihm. Er zog einen Zettel aus dem Regal und gab das erste Codewort ein. Mit Erfolg. Sekunden später hatte er die nächste Firewall vor sich. Blitzschnell öffnete John ein zweites Programm und startete es. Das Programm hatte John selbst geschrieben. Es war ein Programm, daß die Buchstaben und Zahlen selbst kombinierte und probierte. Damit man nicht beim dritten verkehren Versuch Alarm auslöste, schaltete dieses Programm die Alarmsysteme aus. Jetzt brauchte man nur noch probieren. Es dauerte fünf Minuten, dann war auch dieses Paßwort geknackt. Auf zum nächsten. Für das zweite und dritte brauchte er etwas länger, aber die Zeit spielte jetzt nur noch eine untergeordnete Rolle. Als das dritte Paßwort nach 15 Minuten geknackt war, gab er Harry über Funk Bescheid. "Kann gleich los gehen." John war mittlerweile direkt im Poilzeirechner. Er hatte genau das auf dem Bildschirm, was der Polizeicomputer zeigte. Der Beamte davor starrte auf den Rechner. "Scheiß Tag." Plötzlich erschien auf dem Bildschirm ein Feld. "Achtung, Alarm, bewaffneter Überfall in die Zentrale der Deutschen Bank. Erbitte Verstärkung." Auf Johns Rechner sah er, wie der Polizist zum Telefon griff. In diesem Moment konnte er den Polizeicomputer manipulieren. Er deaktivierte den Bezirk im Rechner, in dem der Überfall stattfinden sollte. Wurde dort ein Alarm ausgelöst, wurde er nicht an die Polizei weitergeleitet. Nun gab er Harry grünes Licht. Harry war während dessen mit seinen LKW bis kurz vor den Laden gefahren. Auf Johns Zeichen zertrümmerten vier der Snakes die Scheibe und schleppten einen Computer nach dem anderen hinaus. Die Alarmsignale stellte John per Computer aus. 20 Minuten dauerte dieses. Dann waren 20 Rechner, 10 Drucker und die beste Software in dem Truck verschwunden. Erst als sie bereits auf dem Rückzug waren, kam zufällig ein Streifenwagen vorbei. John fing den Funkspruch auf und löschte sofort die eingegangene Meldung im Rechner. Dennoch folgten dem Wagen drei Polizeiwagen mit Verstärkung. Nun kamen die Blockadewagen zum Einsatz. Sie sicherten Harry den Rückzug zu, indem sie der Polizei den Weg abschnitten und die Wagen zertrümmerten. Die Snakes flüchteten zu Fuß. Niemand konnte ihnen folgen. Fünf Minuten später standen wie am Anfang der Story nur noch die zertrümmerten Autowrackes auf der Straße. Die Snakes trafen sich am vereinbarten Ort wieder. Es war vereinbart, daß sich alle Snakes dort bis um 3 Uhr einzutreffen hatten. Harry hatte bereits das Geschäft mit Max abgewickelt und den Laster in den Graben gefahren. Es waren alle Beteiligten dort, bis auf unsere Jessica. Auch John war gekommen. "Wo habt Ihr Jessica gelassen?" fragte Harry. Als Antwort bekam er von jedem ein Schulterzucken. Doch das genügte ihm nicht. "Gut. Suchen wir sie. Es kann ja nicht so schwer sein." sagte Harry verärgert. Caroline trat an ihn heran: "Sie wird uns verraten. Das hast Du nun davon, daß Du sie mitgenommen hast. Es wimmelt im Bezirk von Bullen. Es ist verrückt, sie jetzt zu suchen. Laß sie uns morgen suchen." Harry wurde rot im Gesicht. "Wir müssen sie jetzt finden. Tot oder lebendig. Sie darf nichts ausquatschen, sonst gehe ich nämlich in den Bau. Versucht es friedlich, wenn sie nicht freiwillig mitkommt, dann bringt sie mit Gewalt zum alten Treff. Wir gehen zu zweit. Keiner geht allein." Die Gruppe trennt sich und begann zu suchen. Erst am Morgen um 10 brachen sie die Suche ab.
Doch was war mit Jessica? Auch Jessica war zu Fuß geflüchtert. Sie lief durch die Straßen ohne auf irgendwelche Schilder zu achten. Plötzlich tauchte hinter ihr eine Gruppe von Jugendlichen auf. Rufe waren zu hören. Einige riefen: "Fangt das Weib. Sie darf uns nicht entwischen." Jessica lief um ihr Leben. Sie rannte und rannte. Plötzlich tauchten vor ihr ebenfalls Jugendliche auf, die mit Stöcken und Baseballschlägern auf sie zu kamen. In panischer Angst stürmte Jessica in einen der Hausflure, der Häuser am Straßenrand. Nach Luft japsend fiel sie auf den Boden und faltete die Hände. Im Haus rumorte es. Eine Tür im Erdgeschoß wurde geöffnet und einer der Skorpions trat hervor. Er blickte Jessica erstaunt an und rief zu seinen Freunden: "Hy Chef. Guck mal, wer uns das besucht." Jessica dachte, ihre letzte Stunde habe geschlagen. Aber schreien konnte sie nicht, da draußen die anderen Verfolger waren. Mic trat aus der Tür und sah Jessica erstaunt an. "Welch seltene Ehre. Was treibt Dich her?" Jessica war so verkrampft, daß sie nicht sprechen konnte. Zwei Jungen nahmen sie unter den Armen und trugen sie in das Zimmer. Dort setzten sie sie auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes. Insgesamt waren etwa 20 Personen in dem Raum. Einige von ihnen hatten Messer in den Gürteln stecken. Mic trat auf sie zu. Er war unbewaffnet, aber was machte das schon aus? Es würde den Schmerz nur noch länger machen. "Was treibt Dich her?", fragte Mic. Jessica konnte vor Angst noch nicht sprechen. Was sollte es überhaupt, wenn es jetzt gleich mit ihr vorbei war. Langsam näherte sich Mic. Er hatte ein Handtuch in der Hand. Jessica stockte der Atem. Wollte er sie damit erwürgen? Zuzutrauen war ihm alles. Er hob das Handtuch langsam empor. Doch er berührte damit nicht ihren Hals, sondern wischte ihr den Schweiß von der Stirn. "Alles Show." dachte Jessica. "Er wird mich erwürgen." Doch das Erwartete blieb aus. Jessica war steif wie ein Brett. Das merkte auch Mic. Er drehte sich zu seinen Freunden um: "Wißt Ihr was. Steckt die Messer weg. Jessica tut keinem etwas. Wie gefällt Dir die Musik, Jessica?" Als Jessica sah, daß die Skorpions die Messer einsteckten, wurde ihr klar, daß sie jetzt kooperativ sein mußte, um nicht erschlagen zu werden. Sie wurde ruhiger. Sie vernahm die Melodien eines Songs der Rolling Stones. "Wie gefällt Dir die Musik?" fragte Mic. "Ggggut." stotterte Jessica, "Mmmal was anderes." Mic lächelte: "Ich wußte, Du hast Geschmack. Jetzt wo Du schon mal hier bist, kannst Du mir einige Fragen beantworten! Was soll ich mit Dir tun? Ist meine erste. Ich kann Dich nicht gebrauchen. Laß ich Dich laufen, so erzählst Du vermutlich, ich hätte Dir was angetan. Genauso wenn ich Dich hier behalte. Dann wird sich Harry an mir rächen. Was soll ich tun?" Jessica fiel auf die Knie. "Bitte töte mich nicht. Ich tue alles, was Du willst. Nur bitte laß mich am Leben." Mic lächelte. "Sperrt sie erst mal in den Keller. Wir beraten morgen, was wir mit ihr tun? Gute Nacht." Die beiden Schränke faßten Jessica und sperrten sie unten in den Fahrradkeller. Die anderen blieben oben. "Was willst Du mit ihr veranstalten?" fragte einer der Jungs, der Steffen hieß. Es war einer von Mics vertrautesten Kameraden. "Ich weiß nicht. Was sollte ich den tun? Harry bringt mich um, wenn er erfährt, daß sie hier ist. Ob sie nun frei ist, oder nicht. Er wird früher oder später darauf kommen." "Laß sie verschwinden.", schlug Steffan vor, "Raus aus Berlin. Irgendwohin aufs Land. Wenn King sich wieder beruhigt hat, holst Du sie wieder zurück." "Das ist Kipnapping. Damit will ich nichts zu tun haben. Außerdem hauen sie uns dann hier alles kurz und klein, wenn sie auch nur den geringsten Verdacht bekommen. Nein. Das ist nicht gut.", sagte Mic. Eine Weile später sagte er: "Sag Andy (unserem Kontaktmann), daß er King mitteilen soll, daß ich bereit bin, mit ihm zu verhandeln, wenn er für die Zeit einen Waffenstillstand hält. Er soll sie selbst in Empfang nehmen." Steffen schüttelte den Kopf. "Das macht der nie." Mic versuchte zu lächeln: "Wenn es nicht Jessica, wäre, um die wir in den ersten Jahren gekämpft haben, seine Freundin und First Lady der Snakes wäre, wäre ich auch nicht sicher. Wenn er nicht interessiert ist, können wir sie immer noch ... . Aber das wird er. Sie ist die First Lady. Harry verliert seine Ehre, wenn er ihr nicht hilft." Steffan nickte. Sie gingen alle ins Bett. Auch Jessica schlief unten in ihrem kalten Keller. Alpträume verfolgten die ganze Nacht hindurch, aus denen sie immer wieder schreiend erwachte." Die Skorpions ließen sie ausschlafen.
Es war zehn Uhr als sich die Snakes trafen. Die Suche nach Jessica hatten sie aufgegeben. "Wenn sie nicht will, hat sie eben Pech gehabt.", sagte Harry laut. Er blickte in die Gruppe und sagte: "Dann brauchen wir eine neue First Lady. Caroline. Würdest Du das über-nehmen?" Er lächelte sie an. Franz nahm die Hand vors Gesicht und dachte: "Das ist Dein Untergang, Harry." Aber er sagte nichts. Caro kam auf Harry zu und gab ihm einen Kuß auf den Mund. Franz war der einzige, der wußte, daß Harry Jessica schon oft mit ihr betrogen hatte. Aber er hatte nie etwas gesagt, weil Caro niemandem außer ihm vertraute. Sie war unberechenbar. Franz war der einzige, der sie wenigstens ein bißchen leiten konnte. Das wollte er sich nicht verderben. Er traute Caroline alles zu. Sie würde für ihre Ziele sogar töten, wenn man sie nicht davon abhielt. Sie war so anders als Jessica. Er fragte sich, ob Harry damit klar kommen würde. Caroline legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn abermals. Hätte er nicht seine Augen geschlossen, hätte er ihren Haß ihm und vor allem Jessica gegenüber gesehen. Diese hatte ihr nie etwas getan. Caroline faßte Harrys Hände und führte sie sich an die Brüste.
Im Lager der Skorpions ging es ruhig zu. Mic saß mit drei Freunden in der Wohnung und trank mit ihnen Kaffee. Es waren Lena, Steffen, und dessen Freundin Cindy bei ihm. Die anderen waren noch zu hause. Sie saßen an einem Küchentisch, auf dem die Tassen standen. Alle vier waren entspannt. Sie sprachen über Jessica, aber keiner von ihnen ließ sich aus der Ruhe bringen. "Was schlagt Ihr vor?" fragte Mic. Steffen, der vorher unterwegs was, sagte. "Andy meint, Harry sammelt sich am Lehrter Bahnhof. Er soll Jessica aufgegeben haben. Caroline ist jetzt seine neue." "Das Biest fehlt uns noch. Sie ist gefährlicher als King selbst.", sagte Cindy. Mic nickte. "Jessica wird es von nun schwer haben.", fügte Lena hinzu. "Dann wollen wir sie mal heraufholen.", meinte Mic. "Es ist nicht allzu angenehm da unten." Seine Freunde nickten. "Laß mich gehen. Einer reicht.", schlug Steffen vor. Er hatte recht. Gefesselt und geknebelt wäre es übertrieben gewesen, sie zu zweit oder gar zu dritt zu holen. Steffen ging hinab. Leise öffnete er die Kellertür. Jessica schreckte zusammen. Sie bekam furchtbare Angst. Jetzt würden sie kommen. Jetzt war es gleich mit ihr vorbei. Steffen schob das abgeschottete Abteil auf, in dem Jessica auf der Seite lag, und kam über sie. Jessica verfolgte jede seiner Bewegungen. Als er sich bückte, zuckte sie zusammen. Steffen hielt inne. Nicht wegen Jessica, sondern wegen dem Faden, der so verfilzt war, daß ein Aufknoten unmöglich war. Er zog sein Messer. Jessica verkrampfte. Ohne ein Wort zu sagen, schnitt Steffen die Fußfesseln auf. Dann half er ihr auf die Beine. Er spürte, wie verkrampft Jessica war, reagierte aber nicht darauf. Wortlos brachte er sie nach oben. Jessicas Angst wurde immer größer. Als die Tür hinter Steffen ins Schloß fiel, wäre sie am liebsten gestorben. Die anderen drei saßen auf Stühlen in einem Halbkreis. "Hallo Jessica.", sagte Mic. Er nahm ihr den Knebel aus dem Mund. "Hallo" versuchte Jessica zu sagen. Doch ihr starrte die Zunge im Mund fest. Sie blickte Mic an. "Was willst Du von mir Michael? Bitte tue mir nichts." "Was ist mit Harry? Liebst Du ihn?" fragte Mic mit ernster Stimme. Jessica nickte kaum sichtbar. Sie war sich nicht sicher, ob er in einer solchen Situation das selbe getan hätte. Mic schaute sie an. Jessica wußte jedoch seine Blicke nicht zu deuten. Was hatte er vor? War er immer noch eifersüchtig? Das mit ihnen lag doch schon Jahre zurück. Mic nickte kurz. Dann blickte er zu ihr auf und sagte: "Liebst Du ihn so, wie Du mich geliebt hast, oder liebst Du ihn, weil er sagt, daß Du ihn liebst?" Jessica verstand diese Frage als Angriff auf sich selbst und antwortete: "Ich liebe ihn, weil er auch nett sein kann. Er ist so zärtlich, wie Du nie warst. Außerdem habe ich ihm viel zu verdanken. Wenn Du das nicht haben kannst, dann bringe es hinter Dich und knall mich endlich ab. Es ist beschämend hier." John stutzte eine Sekunde. "Donnerwetter. Gut. Ich sag Dir was, Jessica." Er schien tief durchzuatmen. "Es war für mich damals eine schöne Zeit. Aber ich will nichts mehr von Dir. Ich liebe Lena. Und was Harry angeht. Ich will diesen verdammten Kampf zwischen den Gruppen nicht. Er hat ihn mir aufgezwängt. Ich würde ihn hier und jetzt beenden, wenn ich könnte. Aber ich kann nicht. Hör mal Jessica. Ich mag Dich, aber Harry rastet aus, wenn er erfährt, das ich was von Dir will. Stimmt ja auch nicht." "Was willst Du dann von mir? Mich ficken? Ist Dir Lena nicht genug. Arschloch.", rief Jessica. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen. Tatsächlich reagierte Mic wie sie erwartet hatte. Sekunden später tat es ihm leid, aber es war zuspät. Seine Worte, "Ich will nichts von Dir. Niemand will was von Dir.", und seine Hand hatten ihr Ziel erreicht. Jessica fiel gefesselt zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Als Mic dann noch sein Messer zog, schrie sie vor Angst. Doch Mic zerschnitt nur ihre Fesseln und half ihr auf. "Verschwinde. Geh nach hause. Geh, bevor ich meine Entscheidung rückgängig mache." Jessica blickte ihn haßerfüllt an: "Wir sprechen uns noch.", sagte sie, während sie ging. Sie verließ schnell das Haus und trat auf die Straße. Weder links noch rechts guckend fluchtete sie. Die Freunde blieben im Haus zurück. Lena stand langsam auf und ging zum Schrank. "Möchte jemand einen Tee?" fragte sie. Steffen nickte. Mic sagte leise "ja." Lena nahm Teebeutel heraus und tat sie in drei große Tasse. Sie stellte Wasser auf und setzte sich wieder zu den beiden. "Wie kann es weitergehen? Ich meine, ok, ich habe nichts gegen sie, aber es ist vorbei. Ich liebe doch Dich Lena." Er schaute seine Freundin an und gab ihr einen Kuß auf den Mund. "Ich liebe Dich auch. Mein Michael Steve Buhl." Mic lächelte und gab seiner Freundin einen Kuß. Die Tür öffnete sich und Cindy trat herein. Sie ging zu Steffen und setzte sich auf einen Schoß. Steffen krabbelte ihr den Rücken. "Na, Ihr beiden?" fragte Cindy die beiden Verliebten. "Was macht unser Gast. Hat sie schon was gesagt? Oder habt Ihr sie wieder laufen lassen?" Sie schien es zu ahnen. "Na ja. Sie wird nichts zu Harry sagen. Das glaube ich nicht. Sie hat Angst vor ihm. Das Mädchen ist so verletzlich. Aber das weißt Du ja selbst. Nicht Mic?" Cindy war viele Jahre lang Jessicas beste Freundin gewesen. Oder sagen wir zweitbeste. Neben Ricky. Aber dann hatten sie sich verzankt. Sie kannte Jessica sehr gut. Jessica fuhr nach hause und legte sich in ihr Bett, um zu schlafen. Wie Cindy gesagt hatte, erzählte sie Harry vorerst nichts. Was hatte Harry getan? Er hätte sich wieder mit Mic geschlagen. Jessica haßte Gewalt. Sie wollte nicht, daß man sich schlug. Schon gar nicht wegen ihr. Sie schlief aber rasch ein, so daß sie sich nicht mehr allzu viele Gedanken machen konnte. Um etwa 20.00 Uhr wurde sie plötzlich wach. Ein Stoß hatte sich geweckt. Jessica drehte sich auf den Rücken und öffnete langsam die Augen. Das unscharfe Bild wurde langsam schärfer. Jessica erkannte einen Mann. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Lederhose. "Hallo Jessica.", sagte er und setzte sich auf ihr Bett. "Was was wollen Sie hier?" stotterte Jessica. Der Kerl faßte ihren Arm. "Du weißt nicht, wer ich bin? Ich auch nicht. Du wirst mich Herr nennen. Du kannst Dir überlegen, ob Du Widerstand leistest oder stillhältest. Dann tut es nur halb so weh." Jessica zitterte als der Typ ihr die Decke wegzog und ihr zwischen die Beine ging. "Was soll das?" fauchte Jessica und versuchte den Kerl zu schlagen. Doch es mißlang. Sie sprang auf und wollte aus dem Zimmer fliehen. An der Tür stellte sie fest, daß diese abgeschlossen war. Der Kerl stand auf und kam auf Jessica zu. "Wenn Du stillhältst, tut es gar nicht weh." Er packte sie am Arm und schmiß sie auf das Bett zurück. Er selbst ging zu ihrem Schrank und öffnete ihn. Heraus holte er Handschellen und eine Augenbinde. Langsam kam er damit auf Jessica zu und fesselte sie damit. Er warf sie auf das Bett und vergewaltigte sie dort mehrmals. Er zwang sie zu perversen Spielen und ließ sie schließlich heulend auf dem Bett liegen. Nachdem er aufgeschlossen hatte, warf er ihr den Schlüssel auf das Bett. Total erschöpft schlief sie schließlich wieder ein.
Am Morgen erwachte sie mit dem Klingelzeichen des Weckers. Sie schlich sich ins Bad und wusch sich das Blut und andere Flüssigkeiten vom Körper. Langsam ging sie in ihr Zimmer und zog sich an. Sie zog sich nicht so hübsch an, wie sie es sonst tat. Sie ging in die Küche und holte sich ein Schälchen aus dem Schrank. Mit müdem Auge suchte sie die Cornflakes und goß sich Milch darüber. Langsam löffelte sie das Essen. Sie ging in ihr Zimmer zurück und griff ihr Tagebuch, daß ganz hinten in ihrem Schrank lag. Mit zitternden Fingern notierte sie etwas darin. Sie schrieb schon eine ganze Weile, aber das wußte eigentlich keiner. Ihr Vater hatte wenig Zeit für seine Tochter. Abwohl er als Lehrer eigentlich gewußt haben müßte, daß Kinder viel Zeit in Anspruch nehmen. Aber ihn möchte Jessica viel lieber als ihre Mutter. Zum Glück war sie vor ein paar Jahren ausgezogen. Jessica hatte sich nie mit ihr verstanden. Während Jessica ihr Müsli löffelte, dachte sie über den Typen vom Abend zuvor nach. Was konnte ihn dazu veranlaßt haben? Warum tat er das? Jessica schwor sich, daß sie niemandem etwas davon sagen würde. Eher würde sie sterben. Nur ihrem Tagebuch vertraute sie ihr Geheimnis an. Gegen sieben Uhr kamen die erste Töne aus dem Schlafzimmer ihres Vaters. Hartmut war ein Langschläfer und ein Morgenmuffel. Es dauerte zehn Minuten, dann stand er in Anzug und Krawatte vor Jessica. "Morgen.", knurrte er. Jessica nickte. Sie wußte, daß er ein prima Vater war. Nur morgens war er ein bißchen brummig. Abends war er hingegen meist leider nicht da. Er war ja Lehrer. Oft blieb er lange in der Schule und hatte Elterngespräche mit seinen Schülern. Dann kontrollierte er oft Arbeiten, bei denen er sich konzentrieren mußte. Zu hause ging das nicht. Jessica sah ihn immer seltener. Aber vom Prinzip war ein guter Kerl. Nachdem Hartmut seinen Kaffee ausgetrunken hatte, verließ er auch schon wieder die Wohnung. Jessica stellte alles in die Geschirrspülmaschine und verließ ebenfalls das Haus. Sie ging zur Straßenbahn, wo sie ihre Banknachbarin und beste Freundin Ricky traf. Sie kannten sich schon seit der Grundschule. Sie waren immer in die selbe Klasse gegangen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie nie Geheimnisse voreinander gehabt. Aber nun gab es etwas, was ihr Jessica nicht sagte. Eigentlich zwei Dinge. Mic und der Kerl. Jessica fühlte sich nicht gut dabei, aber sie hatte Angst, daß Ricky es nicht verstehen würde. Die beiden Mädchen küßten sich wie jeden Morgen gegenseitig auf die Wange. Da Ricky zu den Snakes gehörte, sagte Harry da nichts zu. Sollte Jessica doch Mädchen so viele sie wollte küssen. Hauptsache keine Jungs." Als die beiden aus der Straßenbahn ausstiegen, erblickten sie die Schule vor sich. Es war ein altes Gebäude, was aber noch gut in Schuß war. Jessica faßte Rickys Hand und zog sie zum Schultor. Dort kasperten sie eine Weile herum. Plötzlich lösten sich die Skorpions aus ihrer starren Haltung an der Hauswand und kamen auf sie zu. Jessica konnte Mic, Lena, Steffen und noch einige andere erkennen. Sie blickte Ricky erschrocken an, doch die tat ganz cool. Die Snakes kamen immer näher. Mic löste sich nach vorne ab. Jessica dachte an den Abend zuvor. Angstschweiß brach bei ihr aus. Sie zitterte leicht. Mic trat bis kurz vor sie und blieb dort stehen. Eine Sekunde verging und sie kam Jessica wie ein Jahr vor. Plötzlich stand Harry zwischen den beiden. Er hatte seine Hand an der Gürteltasche mit seinem Messer: "Mach keinen Fehler Mic. Wenn Du Jessica auch nur das Haar krümmst, bringe ich Dich um." Harry sprach es laut und deutlich, aber er brüllte nicht. Das überließ er anderen. Er schob Jessica hinter sich. Mic blickte ihn an. Harry wußte seinen Blick jedoch nicht zu deuten. Lachte er etwa? Nein, Mic lachte nicht. "Harald. Dein Bruch neulich. Ich weiß nicht, was Du willst. Laß die Finger von Max. Er nutzt Dich bloß aus. Du verbrennst Dir die Finger. Ich will doch nicht, daß ich keine Flasche mehr habe, die ich bekämpfen kann." Harry trat vor Mic, ließ aber einen Sicherheitsabstand von wenigen Zentimetern. Er sprach leise, so daß nur Mic und wenige andere es verstehen konnten. "Mic. Nimm Dein Maul nicht zu voll. Ich bin der King hier, und ich entscheide, wie es läuft. Vielen Dank für den Tip mit Max. In letzter Zeit dreht er ab. Ich glaub, der braucht Schacht, wie Du." Mic legte seine Hand auf Harrys Schulter, der dies geschehen ließ. "Kümmere Dich um Jessica. Ich glaube, sie braucht Dich jetzt." Als Harry nickte, drehte sich Mic um und verschwand. Harry ließ ihn gehen. Sofort ging das Getuschel los: "Was haben die beiden zu einander gesagt." Niemand hatte sie verstanden. Niemand hatte etwas von dem Gespräch zwischen den beiden mitbekommen. Niemand? Jessica hatte Mic zwar akustisch nicht verstanden, hatte aber seine Lippen beachtete und so jedes Wort vernommen. Sie wandte sich ab. Harry blickte Jessica an und schloß sie in seine Arme. Die Traube um die beiden löste sich rasch. Jessica blickte ihnen Freund an. "Harry. Ich habe Angst." Sagte sie und hielt kurz die Luft an. "Ich habe Angst, weil ich nicht weiß, was Du vorhast. Bitte rede mit mir. Ich halte das nicht mehr aus. Der ganze Druck. Bitte halt mich fest." Harry schaute seine Freundin an und gab ihr einen Kuß auf den Mund. Doch Jessica wußte, daß dieser Kuß nicht echt sein konnte. Würde Harry sie verstehen? Würde er sie jemals verstehen? Nein. Nicht so. Jetzt ging er schon wieder auf die Schule zu. In seinen Augen sah Jessica die Schule, die Snakes, Mic, die Skorpions. Sich selbst sah sie dabei nicht. Ein Krampf im Magen ließ sie nieder blicken. Harry faßte ihre Hand und zog sie mit in die Schule. Im Klassenraum begegnete ihnen Caroline. Sie kam auf Harry zu und legte ihre Hände um seinen Hals. "Hast Du gestern Abend vergessen?" fragte sie flüsternd, aber so, daß Jessica sie verstand. "Was willst Du mit der Schlampe." Harry trafen diese Worte wie ein Blitz. Er ließ Jessica los und trat zu Caro. Ohne ein Wort umfaßte er sie und hob sie leicht in die Höhe. "Ich bin der King und das ist meine neue Königin." Er ließ sie herunter und drückte ihr einen Kuß auf den Mund. Eigentlich wollte er das gar nicht. Aber ihm blieb nach seiner gestrigen Entscheidung nichts anderes übrig. Was hatte er den schon vorhin getan? Er hatte ein Bandenmitglied davor beschützt, verprügelt zu werden. Das hatte nichts mehr mit Liebe zu tun. Caro strahlte. Endlich hatte sie Jessica da, wo sie sie schon ewig haben wollte. Harry hatte, ohne es zu wissen, einen großen Fehler gemacht. Jessica hätte alles für ihn getan. Caro tat hingegen nur etwas für sich selbst. Aber was sollte das schon. Schließlich gab es nichts, womit King alias Harry nicht klar gekommen wäre. In Sekunden wägte er Caro gegen Jessica ab und entschied, daß Caro jetzt für ihn besser wäre. Jessica blickte Harry haßerfüllt an: "Du hättest wenigstens mit mir Schluß machen können. Aber das bringst Du ja nicht fertig. OK. Du bist der King. Ich hoffe, Du erkennst Caroline, bevor sie Dich umbringt." Jessica drehte sich um und ließ die beiden stehen. Caro schaltete sofort. Sie schob Harry zwischen ihre Brüste. Harry spürte sie und vergaß alles andere. Im Prinzip hatte er jetzt schon verloren. Caro flüsterte ihm etwas ins Ohr. Darauf richtete er sich auf und rief Matthias heran. Hörig wie ein Hund erschien er vor Harry. "Kümmere Dich ein bißchen um Jessica. Das hast Du Dir doch schon so lange gewünscht. Sie gehört Dir." Matthias lief hinter Jessica her. Caro lächelte Harry an. Ihre Küsse durchdrangen ihn. Sie gingen in die Schule hinein. Jessica war in die Klasse geflüchtet, wo jetzt Matthias neben ihr stand und sie bedrängte. Er hatte sie in die Ecke gedrängt und wollte sie gerade begrapschen, als Mic und einige seiner Freunde in den Raum traten. Ängstlich hielt er eine Sekunde inne. Mic schaute ihn eine halbe Sekunde an und wandte den Blick auf seinen Platz. Er und zwei seiner Freunde setzten sich hin. Nur Alex, der früher einmal der beste Freund von John gewesen war, blieb stehen. Er richtete den Blick auf die beiden. Matthias faßte Jessica an die Brust und gab ihr einen Kuß auf den Mund. Jessica versuchte, sich von Matthias zu befreien, indem sie um sich schlug. Matthias hingegen interessierte das wenig. Alex stand auf und trat neben die beiden. Er blickte Matthias an, der Jessica gerade die Luft abdrückte. "Was machst Du da?" fragte er. Matthias schaute ihn etwas überrascht an. "Harry hat gesagt, ich soll mich um sie kümmern. Als tue ich das." "OH oh. Matse, Du mußt noch viel lernen. Laß sie los. In dieser Klasse werden keine Frauen gewürgt. Bist Du den kein Kerl. Hast Du es nötig, eine Frau zu schlagen? Findest Du keinen würdigen Gegner?" Matthias ließ Jessica sofort los. "Na gut. Tschuldigung Jessica. Wir reden heute nach der Schule." Er gab ihr einen Kuß auf den Mund, den Jessica hinnehmen mußte. Seine Zunge drang in ihren Mund ein, wobei ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. In diesem Moment traten Harry und Caroline ein. "Mensch Matthias. Ich wußte ja gar nicht, daß Du küssen kannst. Paß ja auf das zweitschönste Mädchen der Schule auf." Lächelnd wandte er sich Caro zu und gab ihr einen Kuß. Matthias ließ seine neue "Freundin" gehen. Sie setze sich auf ihren Platz neben Ricky. Frau Rheinberg erschien pünktlich im Klassenraum und setzte sich auf ihren Stuhl. Sie blickte sich in der Klasse um. "So.", sagte sie. "Da wir dieses Jahr unser letztes gemeinsames Jahr miteinander verbringen werden, nicht Harald, solltet Ihr Euch schon mal Gedanken über die Klassenfahrt machen. ..." Frau Rheinberg unterbrach sich, da die Klasse momentan scheinbar etwas anderes zu interessieren schien. Sie räusperte sich, doch auch dieses half nichts. Alle Augen und Ohren waren auf Jessica gerichtet. "Nun gut.", sagte Frau Rheinberg lauter werdend. "Meine Damen, meine Herren, ich kann auch anders." Sie schrieb folgende Worte an die Tafel: "Gewalt erzeugt Gegengewalt. Was Du nicht lieben kannst, das suche zu verstehen." Sie blickte sich in der Klasse um, die plötzlich ganz leise wurde. "Wieso hat ein jemand das gesagt?" fragte Frau Rheinberg die Klasse. Keiner gab einen Laut von sich, bis Dirk, ein kleiner dünner und schwacher Junge aus den Reihen der Snakes sich meldete: "Wer ist dieser jemand?" Frau Rheinberg lächelte. "Das ist die erste Frage, die ich mir stelle. Wer könnte diese Aussage machen? In welcher Lage befindet sich die Person, als sie die Aussage macht? Was spricht dafür, was spricht dagegen. Wieso sagt sie so etwas? Was ist der Sinn? Ich muß Euch sagen, daß meine Antwort anders sein wird, als Eure. Aber ich bitte Euch, Euch Eure Antwort zu überlegen. Schließlich geht es um diese Klasse. Es geht um Menschen. Ich habe Euch alle sehr gerne. Alex, Matthias, Harry, Caroline, Ricky, Verena und alle anderen. Aber ich kann diesen ewigen Kampf zwischen Euch nicht verstehen. Schließlich seit Ihr eine Klasse. Ihr solltet zusammenhalten. Stellt Euch vor, was Ihr zusammen erreichen könntet. Einer für alle und alle für einen. Das kennt Ihr doch." Alle nickten. "Allerdings ist mir nicht klar, was Ihr erreichen wollt, wenn Ihr andere ausstoßt. Ich meine, warum? Weil sie anders sind? Wir sind alle anders. Und ich meine nicht bloß Jessica." Harry stand auf: "Was hat Jessica damit zu tun?" "Ich will mich nicht in Eure Angelegenheiten einmischen, aber ich will, daß das Ihr wieder eine Klasse werdet. Ich will wieder ins Lehrerzimmer kommen können, ohne hören zu müssen, ‚Weißt Du, King hat wieder ein Schlägerei angezettelt. Mic hat wieder einen Bruch hinter sich. Ob er diesmal in den Bau muß?‘ Ich hasse es. Und für Euch ist es auch nicht gut. Macht was Ihr wollt. Aber seit Euch sicher. Solltet Ihr Euch in den nächsten Wochen nicht einig werden, müßt Ihr mit Konsequenzen rechnen. Ihr kennt mich. Ihr wißt, daß ich Euch respektiere, wenn Ihr mich respektiert. Wenn dies passiert, haben wir keine Probleme. Wenn das aber nicht passiert, habt Ihr einen Haufen Ärger am Hals. Ich verlange nichts unmögliches. Kommt mir zu Ohren, daß Ihr unsere Vereinbarung nicht einhaltet, bekommen wir Ärger. Seid Euch dessen bewußt! Mein letztes Wort dazu. So, und jetzt holt Eure Lesebücher heraus." Sie hatte nicht mal eine Pause gemacht. Jedem in der Klasse war die Lage bewußt. Selbst Harry gehorchte wieder. Aber was war anderes zu erwarten. Frau Rheinberg war mit allen Wassern gewaschen. Ihr redete so schnell keiner rein. Die Stunde verging schnell. Jessica zu schnell. In der kurzen Pause war nicht viel zu sagen. Jessica saß auf ihrem Platz und schwieg sich aus. Ricky, die während der Stunde neben ihr saß, war bei Verena, der Freundin von John. Wenige Minuten später saßen sie wieder auf ihrem Platz und warteten darauf, was Frau Rheinberg tat. Doch Frau Rheinberg tat nichts. Sie sah die Gruppen an und dachte sich ihren Teil. Als auch diese Stunde zu Ende war, nahm sie Caroline zu Seite. Die Augen waren auch hier auf die beiden gerichtet. Aber Frau Rheinberg sprach so, daß nur Caroline sie verstehen konnte. Caro nickte und stahl sich davon. Was Frau Rheinberg ihr gesagt hatte, hatte niemand verstanden. Die Klasse ging nach draußen. Die Pause verging ohne Zwischenfälle. Jessica hatte sich allein in eine Ecke verzogen und gammelte dort ab. Das heißt, eigentlich gammelte sich nicht. Ihre Gedanken waren nur weit weg. Sie träumte einen schönen Tagtraum. Ein Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht. So glücklich wie jetzt hatte man sie selten gesehen. Doch ihr Glück sollte nicht lange halten.
Ihr Mathelehrer kam mit dem Klingelzeichen herein. Herr Mendal war ein kleiner Mann, dem Jessica noch nie getraut hatte. Aber bisher war sie sehr von ihm verschon worden, den Mendal hatte Angst vor King. Nun schütze sie keiner mehr. Mendal öffnete seine Tasche und holte Arbeiten heraus. "Wie angekündigt schreiben wir heute die Arbeit. Ihr kennt die Methode." Er setzte sein gemeinstes Lächeln auf, als er Jessica ihre Arbeit gab. "Viel Glück." meinte er. Jessica verzog keine Miene. Sie hielt es nicht für notwendig. Sie hatte diesen Kerl bereits gefressen. Sie haßte ihn, und das nicht nur, weil er ihr Lehrer war. Die Schüler setzten sich auf ihre Plätze und begannen, die Aufgaben zu lösen. Langsam kehrte Ruhe in die Klasse. Jessica besah sich die Aufgaben. "Immer das gleiche. Immer den selben Scheiß." Sie löste die erste Aufgabe. Plötzlich schreckte sie zusammen. Vor sie fiel ein zusammengeknülltes Stück Papier. Es hatte sie fast ins Gesicht getroffen. Jessica schaute einen Augenblick lang auf das Objekt. Es war ein kariertes Blatt. Sie faltete es langsam auseinander. Auf dem Blatt erkannte sie den Lösungsansatz der ersten Aufgabe, der aber verkehrt gerechnet war. Sie stand auf und ging zum Lehrertisch. Dort legte sie das Papier ab und wollte zu ihrem Platz zurückkehren. Doch Mendal hielt sie fest am Arm, so daß es sie schmerzte. "Jessica. Die Arbeit ist für Dich gelaufen. Pack Deine Sachen und verschwinde." "Wenn Du mich nicht gleich loslaßt Dieter, muß ich dem Direktor einiges über uns erzählen. Du Schwein. Ich hasse Dich." Mendal gab ihr eine Ohrfeige, worauf Mic ohne eine Erklärung dafür aufsprang. Natürlich hatte er eine Erklärung, aber es war nicht die, die man hätte erwarten können. Jessica war ja praktisch noch bis eben die Freundin seines ärgsten Feindes gewesen. Er mochte sie nicht, aber er haßte Mendal um so mehr. "Mendal halt‘s Maul und setz Dich auf Deinen Arsch. Ich will hier eine Arbeit schreiben. Regel das in der Pause mit Schnucky." Harry durchfuhr dieses Wort. Noch vor einer Woche hätte er Mic dafür erwürgt. Aber jetzt? Er schaute Caro an, die ihm einen Kuß andeutete. Er stand auf und trat auf Mendal zu, den Mic gerade am Kragen hatte. "Laß das Schwein los, Mic! Ich habe keine Lust, mir das Theater anzuhören. Und war Jessi angeht. Sie gehört immer noch mir, und wenn Du versuchst, Dich bei ihr ein zu schleimen, möchte ich Dich daran erinnern, daß es zwischen Euch seit Jahren vorbei ist. Also laß sie in Ruhe." Jessica stand auf und stellte sich vor Harry. "Du redest, als wäre ich Dein Eigentum. Vergiß es. Vergiß, daß es jemals etwas zwischen uns gab. Verpiß Dich einfach. Ich will nichts mehr mit Dir zu tun haben." Jessica drehte sich um und verließ den Klassenraum. In diesem Augenblick grinsten zwei Personen im Klassenraum. Das waren Dieter Mendal und Caroline Foster. Mendals Grinsen erstarrte sofort, als Harry ihn anguckte. Er drehte sich um und sagte etwas zur Klasse. Sie schrieben die Arbeit zu Ende. Nach der Stunde trat Jessica wieder in den Klassenraum zurück und setzte sich wortlos auf ihren Platz neben Ricky. Mendal wagte nicht, aufzublicken. Jessica war ihm zwar egal, aber Harry bereitete ihm Sorgen. Es war nicht gut, mit ihm schlecht zu stehen. Caroline schlang sich um Harrys Hals und küßte ihn innig. Mic beachtete die beiden und Jessica überhaupt nicht. Mendal zog sich aus dem Lehrerzimmer zurück. Er hatte genug für heute. Caroline flüsterte unter dessen Harry etwas ins Ohr, worauf der etwas knurrend zu Jessica ging. Niemand außer ihr hörten seine Worte: "Jessica. Du hast recht. Es ist aus zwischen uns. Es war eine schöne Zeit mit Dir. Ich hoffe, Du kannst mir irgendwann verzeihen." Jessica schaute ihn erstaunt an. Etwas verwirrt sagte sie: "Du willst mich doch etwa nicht alleine lassen?" Harry nickte leicht. Jessica nickte und ging an ihren Tisch zurück. Nun stand Geologie auf dem Stundenplan, und darauf wollte sie sich jetzt seelisch und moralisch konzentrieren. Herr Komorr betrat den Klassenraum. Er war ein Riese, aber äußerst nett. Für manche zu nett. Der Geologieunterricht verlief ruhig. Alle paßten auf und arbeiteten mir. Nach der Stunde war Hofpause und alle Schüler mußten nach draußen. Auch Jessica ging mit Ricky hinaus. Draußen wartete man bereits auf sie. "Na Du Schlampe." Aber das war nicht das einzige. Matthias trat auf sie zu und faßte ihr in die Hose. Es tat ihr schrecklich weh. Harry stand abseits und verfolgte das Geschehen ohne Interesse. Neben ihm stand Caro. Sie unterhielt sich gerade mit Franz, ihrem Ex, dem sie nun gekündigt hatte. Es war jener, der Harry einige Tage zuvor gewarnt hatte. Aber jetzt konnte er ja auch nichts mehr machen. Wenn Harry sich entschieden hatte, hatte er sich halt entschieden. So dachte er, und so dachte auch Harry selbst. Aber in Wirklichkeit hatte er schon jetzt all seine Macht verloren. Caroline war jetzt das Gehirn, und das Gehirn entschied, was getan wurde. Das war schon immer so. Harry war blind vor Liebe. Plötzlich löste sich jemand aus den Reihen der Skorpions. Es war Alex. Er ging zu Matthias und faßte ihn an der Schulter. "Hattest Du nicht etwas gesagt? Ich wußte, daß Du ein Feigling bist." Er sprach seine Worte laut und deutlich, aber er brüllte nicht. Caroline als auch Harry hatten ihn verstanden. Beide kamen auf Alex zu. "Du beleidigst meine Männer?" fragte Harry und trat, sich aufbauend, auf Alex zu. Alex schaute ihm ins Gesicht. "Ich habe keine Angst vor Dir, King. Das weißt Du. Ich habe keine Angst vor Dir. Du bist ein Mann. Was man von Matthias nicht behaupten kann. Weicheiern, die Frauen schlagen, verachte ich. Zähle Dich nicht dazu, Harry." Alex drehte sich um und schritt davon. Matthias rief im das Wort "Feigling" hinterher. Er dachte, daß Harry das wollte, doch dieser reagierte anders, als er dachte. Blitzschnell griff er ihn am Kragen. "Noch ein Wort und ich erwürge Dich. Halt Dein elendiges Maul, bevor ich es Dir eintrete. Wenn die Schlange den Skorpion nicht fressen kann, sollte sie ihm aus dem Weg gehen. Bevor Du mich entehrst, weiche lieber zurück." Matthias zog sich erschrocken zurück. Dies hatte er nicht erwartet. Erstaunt guckte er Caroline an. Diese nickte ihm zu. Harry wandte sich an Jessica: "Ich hoffe, es war das letzte Mal, daß ich mit Dir reden muß. Ich werde Dich in Ruhe lassen. Es wird Dich keiner der Snakes anfassen. Dafür verlange ich, daß Du nicht versuchst, in mein Leben herein zu reden. Gehabe Dich wohl." Jessica sah ihn lange an: "Ich hoffe, Du wirst Deinen Entschluß nicht bereuen. Wir reden dann beim nächsten Klassentreffen in 10 Jahren über die ganze Sache. Ich hoffe, Du schaffst es bis dorthin." Sie drehte sich um und verließ den Kreis. Harry lachte und gab Caro einen Kuß. Doch diese dachte nicht an ihn, sondern an Jessica. Warum konnte dieses Weib nicht endlich für immer die Schnauze halten. Die letzten beiden Stunden vergingen im Flug. Nach der Schule machte sich Jessica auf den Heimweg. Sie fuhr allein. Sie hätte es keine Sekunde länger in der Schule ausgehalten. Ricky mußte noch zur Bibliothek, um ein paar Bücher zu besorgen. Sonst wäre Jessica gerne mit ihr gegangen. Aber heute wollte sie einfach nur noch nach Hause. Sie stieg in die Bahn und fuhr eine Station. Auf diesem Bahnhof stiegen einige Jungen der Snakes ein. Unter ihnen waren Mario, Oskar und natürlich Matthias. Als der Zug anrollte, kamen sie auf Jessica zu und drängten sie in die Ecke. Matthias drückte sie an die Tür und riß ihr ihre Hose auf. Keiner der Fahrgäste sagte etwas, als Matthias sie dort vergewaltigte. An der nächsten Station drückten die Jungen Jessica den Mund zu, so daß sie nicht schreien konnte. Viele Personen stiegen hier aus. Einige stiegen aber gleich wieder in den nächsten Waggon ein. Ein junger Mann betrat den Waggon und setzte sich auf einen der freien Plätze. Der Mann mochte etwas 25 Jahre alt sein. Als die Jungen Jessica wieder atmen ließen, schrie diese. Matthias trat ihr in den Bauch. Der Schrei ließ den Mann zusammenzucken. Er sprang auf und stürmte zwischen die Gruppe. Er sah Jessica am Boden liegen. Er sah, wie sie aus Mund und Nase blutete, und er begriff sofort. Die Gruppe griff ihn an. Seine Faust traf Matthias im Gesicht. Bruchteile von Sekunden später hatte er sein Ohr in der Hand. Wie Alex hielt er es demonstrativ in die Höhe. "Wer möchte der nächste sein?" Die Jungen verstreuten sich augenblicklich. Der Mann half Jessica hoch und geleitete sie an der nächsten Station nach draußen. "Ich hoffe, ich habe alles nicht noch schlimmer gemacht. Ich habe zwar noch etwas vor, aber wenn Sie wollen, kann Sie aber noch zur Polizei bringen. Dort können Sie eine Anzeige machen." Jessica blickte ihn erstaunt an. "Das, das ist nicht nötig. Ich, ich komme schon zurecht. Danke.", stotterte Jessica. Sie sah dem Mann in die Augen Dieser faßte ihre Hand, die noch immer zitterte. Kommt nicht in Frage. Wenn Sie nicht zur Polizei möchten, weil Sie erst alles verarbeiten müssen, können wir darüber reden. Ich bin Psychologe. Er zeigte seine Karte. "Nein, das will ich nicht. Bringen Sie mich bloß nach hause.", sagte Jessica. Sie hatte Angst, daß Matthias sie noch mehr verletzen würde. Sie überlegte, was er tun würde, wenn Jessica ihn anzeigte. Er würde sie umbringen. Ihre Kräfte schwankten. Der Mann legte ihren Arm über seine Schulter und brachte sie nach oben aus der Station. Dort setzte er sich mit ihr in ein Taxi und fuhr zu Jessicas Wohnung. Als Jessica sich in das Taxi gesetzt hatte, schlief sie fast vor Erschöpfung ein. Der Psychologe strich mit seiner Hand über ihren Arm, an die sie sich lehnte. Das Taxi fuhr nicht lange. Nach zehn Minuten hielt es vor Jessicas Tür an. Beide stiegen aus dem Auto. Gestützt stolperte Jessica in ihre Wohnung. Der Mann brachte sie bis zu ihrem Bett, auf das sie sich legte. Bevor er ging, legte er Jessica seine Karte mit seiner Telefonnummer auf den Tisch. "Haben Sie vielen Dank.", sagte Jessica, bevor sie die Augen schloß und einschlief. Der Psychologe verließ das Haus und ging seinen Geschäften nach. Jessica schließ fest, als ihr Vater nach hause kam. Sie hatte die Angewohnheit, immer auf der Seite zu schlafen, wobei sie das Gesicht immer zur Wand drehte. So konnte Hartmut ihre blauen Flecke und dicken Augen nicht sehen. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Küchentisch. Langsam goß er sich ein. "Komisch.", dachte er. Jessica hatte sich sonst nie nach der Schule hingelegt. Meist war sie beim Lesen oder machte Hausaufgaben. Wann hatte sie sich das letzte Mal nachmittags hingelegt? Na ja, war ja egal. Warum sollte sie es nicht tun dürfen? Hartmut ging in sein Zimmer und holte aus seiner Tasche ein paar Arbeiten heraus. Es waren Diktate von seinen Schülern, die er als Deutschlehrer kontrollieren mußte. Oft schüttelte er hierbei den Kopf. Zu hause konnte er sich nicht auf diese Arbeiten konzentrieren. Es ging nicht. Nachdem er die ersten beiden von 30 Arbeiten kontrolliert hatte, stand er auf und ging zur Garderobe . Langsam zog er sich seine Jacke an und verließ die Wohnung. Auf der Treppe durchfuhr ihn ein Schauer. Er drehte sich um und ging in die Wohnung zurück. Langsam steuerte er auf Jessicas Zimmer zu und öffnete die Tür. Er trat bis zu ihrem Bett und sah sie lange von hinten an. Sie schlief so schön, daß er sie nicht wecken wollte. Ihr Gesicht hatte sie fast vollständig in ihr Kissen gesteckt, wie sie es oft tat. Hartmut verließ das Zimmer und ging in die Küche. Er griff einen Zettel und schrieb darauf, daß er noch in der Schule war. Danach wollte er noch zu einer Freundin. Mit den Arbeiten unter dem Arm verließ er die Wohnung erneut und fuhr zur Schule. Dort kontrollierte er bis um acht Uhr die Arbeiten und fuhr danach zu der besagten Freundin.
Jessica erwachte durch einen Stoß in die Seite. "Steh auf!" befahl die Stimme des Mannes, der sie am Tag zuvor mißbraucht hatte. Jessica schreckte hoch. Ihre Angst lähmte sie. "Knie nieder.", waren die furchtbaren Worte ihres Peinigers. Jessicas Glieder gehorchten gegen ihren Willen. Das perverse Spiel begann von neuem. Jessica schloß in diesen Stunden mit ihrem Leben ab. Unter diesen Umständen konnte sie einfach nicht mehr. Die Nerven waren ihr durchgegangen. Sie hatte keinen klaren Gedanken mehr. Sie lag noch lange wach, als das Schwein sie bereits verlassen hatte. Gegen 3 Uhr stand sie langsam auf. Mehr gekrochen als gegangen bewegte sie sich zum Medizinschrank. Sie durchwühlte ihn und fand eine Packung Schlaftabletten. Sie hielt sie in der Hand und wiegte sie gegen ihre andere Hand, in der sie nichts hatte, ab. Nickend schloß sie den Medizinschrank und ging in die Küche. Ein Glas Wasser sollte genügen. Sie pulte die erste Tablette aus der Packung und spülte sie mit dem Leitungswasser hinunter. Eine zweite folgte sofort. Sie hielt inne und betrachte die Packung. Die Schultern zuckend holte sie eine dritte und vierte Tablette aus der Packung und spülte sie hinunter. Im Film waren jetzt noch zwei Tabletten. Jessica sah sie lange an. "Für einen schönen Traum." dachte sie, während sie die fünfte Tablette schluckte. Sie ließ den Film mit der einen noch vorhandenen Tablette fallen und verließ das Bad. Den Schrank und die Türen ließ sie offen. Auch ihre Zimmertür schloß sie nicht. Sie legte sich auf ihr Bett und wartete, bis die Wirkung der Tabletten erfolgte. Langsam geriet sie in einen immer tiefer werdenden Schlaf. Sie träumte von einem blauen Meer, über dem sie schwebte. Grenzenlos frei und ohne jeder Last schwebte sie wie eine Möwe über den Schiffen tief unter ihr herüber. Zu klein um gesehen zu werden, aber groß genug, um alles zu sehen.
Hartmut betrat an diesem Morgen die Wohnung zu einer Zeit, als Jessica bereits aufgestanden sein mußte. Als er die Tür geöffnet hatte, blieb er stehen. Irgend etwas war komisch. Von Jessica war kein Laut zu hören? Hatte sie verschlafen? Unmöglich. Nach Jessica konnte man sonst die Uhr stellen. Nein. Er ging ins Wohnzimmer. Keine Jessica. Er ging in sein Schlafzimmer. Keine Jessica. Wo steckt sie bloß? "Vielleicht steckt sie im Bad?" dachte Hartmut. Er öffnete die Tür und sah den offenen Medizinschrank. Entsetzen durchfuhr ihn als er auf den Boden sah. "Um Gottes Willen. Jessica." Er zitterte. Mit einem Sprung war er in Jessicas Zimmer und drehte sie um. Aber was er hier sah, ließ ihn erstarren. Seine Stimme schrie. Jessicas lebloses Gesicht war zerkratzt. Tiefe Wunden zierten es. Ihre Handgelenke waren noch rot von den Fesseln des Vergewaltigers. Hartmut fühlte ihren Puls, der nur sehr schwach war. Ihre Atmung war sehr langsam, aber sie war noch vorhanden. Ohne zu denken sprang er auf und griff nach dem Telefon: "Ja hallo. Hartmut Schneider hier. Ich brauche einen Krankenwagen. Meine Tochter liegt im sterben. Ich glaube, sie hat Schlaftabletten genommen. Ihr Gesicht ist verkratzt. Bitte kommen Sie schnell." "Die Frau am anderen Ende fragte ihn nach seiner Adresse und schickte einen Krankenwagen hin, der wenige Minuten später vor der Wohnung anhielt. Jessica wurde in den Krankenwagen geschoben und in die Klinik gefahren. Hartmut durfte mitfahren und begleitete seine Tochter bis kurz vor den Operationssaal. Der Fahrer des Krankenwagens stand neben ihm. Es war ein junger Mann, der etwa 18 Jahre alt sein müßte. Hartmut hatte ihn schon einmal gesehen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wo dies gewesen sein sollte. "Na, dann werde ich mal in die Schule.", sagte der Junge und verließ Jessicas Vater. Dieser begrub den Kopf in den Händen und weinte. Warum hatte Jessica ihm das angetan? Er konnte es nicht verstehen. Der Fahrer fuhr mit einem privaten Wagen zu einer Schule.
Jessicas Klasse hatte in der ersten Stunde Mathematik mit Mendal. Er kam in die Klasse und blickte sich um. Anscheinend suchte er Jessica. Als er sie nicht entdecken konnte, nickte er und ging zum Lehrertisch. "OK. Wo waren wir gestern stehen geblieben?" fragte er. Einige starrten ihn an. Andere schauten auf den Boden oder weg. Nur Caroline stand auf und ging zu Mendal. "Was lernen wir heute?" fragte Caro ihn verführerisch, indem sie ihm zärtlich über die Schulter streichelte. Mendal bekam plötzlich feuchte Hände. Caro war ihm nicht mehr geheuer. Aber es wäre dumm gewesen, sie jetzt abzuschütteln, da er sie ja vielleicht noch brauchen würde. Oder wer gebrauchte hier wen? Mendal gab Caro einen Kuß und flüsterte: "Wir besprechen später alles weitere. Jetzt hör erst mal auf. Harry guckt schon so eifersüchtig. Ich will nicht mit ihm schlecht stehen." Caroline schaute ihn an und sagte: "Harald ist nicht unserer Problem. Der wird nicht mehr lange sein. Nur Jessica wird Ärger machen." Bevor sie wieder auseinandergingen, meinte Mendal noch: "Wir hassen sie doch beide." Caro nickte und ging an ihren Platz zurück. "So." meinte Mendal und begann mit seinem Unterrichtsstoff. Auch wenn er nichts gesagt hatte, war ihm sofort beim hereinkommen aufgefallen, daß Jessica nicht da war. Er wußte auch von dem Zwischenfall in der U-Bahn, aber hierüber verlor er kein Wort. Wozu auch. Jessica war ja nicht da. Es hatte keinen Sinn, darüber zu reden. Die Stunde verlief ruhig. In der zweiten Stunde hatten sie jetzt Geo. Diese Stunde war heute besonders langweilig. Herr Komorr hatte nicht den besten Tag erwischt. In der zweiten Pause kam Frau Rheinberg in die Klasse. Sie sah aus, als wäre sie verzweifelt. "Hört mal kurz zu Kinnings.", sagte sie, "Jessicas Vater hat eben angerufen. Jessica hat versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem sie anscheinend mehrmals vergewaltigt wurde. Ich bitte Euch, kommt zu mir, wenn Ihr Hinweise auf den Täter habt." Keiner in der Klasse rührte sich. Langsam stand Harry auf und löste sich zu seinem Platz. Caro entspannte sich, als sie sah, daß er in Mics Richtung ging. Er nahm ihn am Kragen und versuchte, ihn hoch zu reißen. Doch Mic wehrte ihn ab und fragte: "Was willst Du von mir. Jessica interessiert mich nicht mehr. Es ist aus zwischen uns. Wenn ich sie hätte vergewaltigen wollen, hätte ich es neulich bei uns im Keller gemacht. Also laß mich in Ruhe." "Was für ein Keller?" brüllte Harry und riß Mic hoch. Jessica hatte ihm ja nichts davon erzählt. "Sie war also bei Dir?" brüllte Harry. Seine Faust traf Mic auf der Nase. Mic brüllte und stürzte sich auf Harry. Beide waren nur mit Gewalt wieder voneinander zu trennen. Caroline stand etwas abseits. Aber das bedeutete nicht viel, den sie beobachtete das Geschehen genau. Es sollte nur nicht so erscheinen. "Ich gebe Dir noch drei Tage.", dachte sie, während sie Harry anschaute. Die beiden Kampfhähne wichen auseinander. Jeder auf seinen Platz. Frau Rheinberg schüttelte den Kopf und verließ die Klasse. Mic setzte sich neben Alex. "Jessica sah schlimm aus. Ihr Gesicht und ihre Brust war verkratzt und mit Blut überströmt. Ich weiß nicht, wer sie so zugerichtet haben kann." Mic schaute Alex lange an. "Wer könnte so etwas tun?", fragte er. Alex zuckte die Schultern.
Hartmut hatte die Charité verlassen und war zu seiner Schule gefahren. Dort versuchte er, seinen Unterricht so "normal" wie möglich zu gestalten. Er mußte sich ablenken. Im Krankenhaus wäre er verrückt geworden. Jessica lag inzwischen in einem Bett und schlief. Die Ärzte hatten sie operiert und sie wieder zusammen geflickt. So gut es ging, versteht sich. Der tiefe Einschnitt auf ihrer linken Wange, der von der Schläfe bis zum Kinn reichte, hatte man zwar genäht, konnte man aber nicht unsichtbar machen. Jessica war gewaschen und ihre sonstigen Wunden versorgt worden. Alle paar Minuten schauten die Krankenschwestern und Ärzte nach ihr. Jessica bekam von all dem nichts mit. Sie schlief noch tief und fest.
Um drei Uhr hatte Jessicas Klasse Schulschluß. Harry hatte sich in der Zwischenzeit beruhigt. Er redete sich ein, daß er mit ja eigentlich mit Jessica wenig zu tun hatte. Caro hielt seine Hand und führte ihn zu sich nach hause. Matthias blieb in den Reihen der Snakes und ging mit einigen von ihnen auf den Basketballplatz. Dort spielten sie lange zusammen. Mic verließ zusammen mit Lena die Schule auf direktem Weg zu sich nach hause. Und Alex? Der machte sich als einziger auf den Weg zur Charité. Er betrat das Hochhaus und gelangte auf die Station. Hier begegnete er seiner Ex-Freundin Nicole. Sie waren 2 Jahre zusammen gewesen und hatten dann beschlossen, nur noch gute Freunde zu sein. Die Gründe hierfür sind für diese Story uninteressant. Nicole begegnete ihm mit einem Lächeln. "Was treibt Dich den her?" fragte sie. "Ich will zu Jessica Schneider. Wie geht es ihr?" Nicole schaute ihn neugierig an. "Ich war eben bei ihr. Da schlief sie noch. Aber Du kannst gerne nach ihr schauen." Nicole geleitete ihn in das Krankenzimmer, in dem Jessica schlief. Sie blieben beide am Fußende des Bettes stehen und betrachteten sie eine Weile. Alex schaute auf die frisch genähte Narbe in ihrem Gesicht. Wer konnte ihr das nur angetan haben. Mic jedenfalls nicht. So etwas hätte er nie getan. Ok. Er hatte sie mal geschlagen. Er hatte sie mal an der Hüfte verletzt, aber er hatte dieses auch bedauert. Er hatte ihm damals geschworen, Jessica nie wieder gewaltsam anzufassen. Alex glaubte seinem Freund. "Ich bin dann draußen." sagte Nicole und verließ das Zimmer. Alex setzte sich neben Jessicas Bett und faßte ihre Hand. Er überlegte, warum Jessica in diese Lage gekommen sein könnte. Jessicas Hand haltend schloß er die Augen. Er war an diesem Morgen schon um halb zwei aufgestanden. So döste er ein. Jessica hingegen erwachte gegen vier Uhr morgens. Sie spürte Alexanders Druck an ihrer Hand und blickte ihn an. Er saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl und hatte die Augen geschlossen. Jessica erkannt ihn nicht. Ihr Gedächtnis wies große Lücken auf. Langsam und vorsichtig löste sie ihre Hand aus Alexanders und stieß ihn keck in die Seite, worauf dieser hochschreckte. Nachdem er eine Sekunde überlegte, wo er denn jetzt war, schaltete er das Licht an. Jessicas Augen leuchteten im Schein des Lichtes. "Hallo Jessica." sagte Alex etwas verwirrt. "Eigentlich wollte ich ja wach bleiben, aber nun bin ich ja doch eingeschlafen." Jessica lächelte. "Schön, daß Du da bist. Wer Du auch immer sein magst." Sie erinnerte sich nur ganz schwach an Alex. Sie wußte fast nichts von ihm. Nicht einmal mehr seinen Namen. "Ich bin Alex." sagte der Junge neben ihr. "Alex." wiederholte Jessica. "Ja. Irgendwie kenne ich den Namen. Aber jetzt habe ich keine Lust, darüber nachzudenken. Wie kommt es, daß Du hier bist?" Alex schaute das Mädchen an. "Ich habe Dich hergebracht. Du lagst in Deinem Zimmer und warst ohnmächtig. Der Arzt sagt, Du hättest Schlaftabletten genommen, um Dich von irgend etwas abzulenken." Jessica schaute Alex an. Sie hatte den ganzen Tag noch im Kopf. Sie wußte noch genau, was passiert war, konnte aber die vielen Gesichter nicht zuordnen. Sie hörte Alex weitersagen: "Wen sie Dir helfen sollen, mußt Du es der Polizei sagen. Nur die kann Dir helfen." Jessica dachte an Harry, und sie dachte an seine Worte, die immer das selbe sagten: "Die scheiß Bullen. Die können gar nichts. Alles Penner. Die sollen nur kommen. Die können mir gar nichts." Jessica schaute Alex an. War er auch so einer, oder war wenigstens er vernünftig? "Ich überlege es mir." sagte Jessica. Sie war noch etwas verwirrt, aber Alex irrte, wenn er dachte, daß sie vom gestrigen Abend nichts mehr wußte. Sie wußte alles noch ganz genau. Nur an davor konnte sie sich nicht mehr erinnern. "Ich überlege es mir. Vielleicht fällt mir ja wieder was ein. Aber im Moment kann ich mich an gar nichts mehr erinnern. Jetzt laß mich noch eine Weile schlafen." Jessica schaute ihn in einer Art an, die Alex nicht an ihr kannte. "Gut. Ich würde gerne noch ein paar Stunden schlafen gehen. Ich komme heute Nachmittag wieder zu Dir. Alex wollte Jessicas Hand loslassen, doch sie drückte sie fest. "Bitte verlaß mich nicht. Alex, bitte bleibe bei mir." Ein Lächeln huschte über Alexanders Gesicht. Er war verzaubert von diesem Mädchen. Er erinnerte sich, als Harry sie damals in den Arm nahm. Damals, als sie und Mic sich getrennt hatten. Er sah ihr Lächeln vor seinem inneren Auge. Harry war nicht schlecht, daß wußte er. Man mußte ihn nur nicht herausfordern. Jessica schlief ein. Alex begann wieder zu dösen. Am nächsten Morgen machte sich Alex auf in die Schule. Jessica blieb "allein" im Krankenhaus zurück. Sie blickte zur Decke und stellte sich eine Blume vor. Es war eine rote Rose. Früher hatte sie diese Blume über alles geliebt. Früher einmal. Damals war auch noch alles nicht so schlimm wie heute. Oder? Gegen neun Uhr betrat Hartmut und eine ältere Frau den Raum. Jessica dachte an eine pensionierte Lehrerin, die in ihrer Karriere so manchen Schüler zusammengestaucht hatte. "Hallo Schatz.", sagte Hartmut. "Das ist Frau Schmidt. Sie ist Psychologin. Ich fände es gut, wenn Du Dich ein wenig mit ihr unterhalten würdest." Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ Hartmut den Raum. Die Frau blickte Jessica an: "Guten Tag. Dein Vater sagte, ich solle mich mal mit Dir unterhalten. Er sagt, Du hättest versucht, Dir das Leben zu nehmen." Jessica fühlte sich hintergangen. Warum hätte ihr Vater nicht erst einmal mit ihr reden können. Schließlich hatte sie ihn noch gar nicht richtig nach dem Selbstmordversuch gesehen. Hätte er nicht erst mit ihr darüber reden können? Nein!? "Was wollen Sie jetzt von mir?" fragte Jessica. "Ich will Dir helfen. Allerdings geht das nur, wenn wir zusammenarbeiten. Also. Kannst Du mir sagen, warum Du es getan hast?" Jessica schaute die Frau an und sagte: "Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nicht vertrauen. Tut mir leid." Jessica schaute auf die Decke. Eine Träne rollte ihr über die Wange. In Gedanken stellte sie sich immer wieder die selben Fragen: "Was bin ich für ein schlechter Mensch. Was hat mir die Frau getan? Nichts. Warum fühle ich dann so etwas?" "Jetzt hör auf zu flennen!" fauchte die Frau. Jessica schreckte zusammen. Aus dem ernsten Gesicht der Frau wurde wieder ein dämliches Grinsen. Jessica wies zur Tür: "Raus!" Die Frau nahm ihre Sachen und verließ mit den Worten: "Das wirst Du noch bereuen.", den Raum. Jessica drehte sich auf die Seite zum Fenster und schloß die Augen. Frau Schmidt trat zu Hartmut, der sie fragte, was los war. "Ich kann es Ihnen nicht sagen. Sie hat gesagt, ich soll gehen. Aber das ist ganz normal. Ich lasse Ihnen Termine zukommen. Es ist nur wichtig, daß sie kommt." Sie schleuderte noch mit einigen Fachbegriffen umher, mit denen Hartmut nichts anfangen konnte, und verließ ihn dann. Hartmut ging langsam in Jessicas Zimmer. Er stellte sich neben Jessicas Bett und faßte auf ihre Schulter. Doch sie schien zu schlafen. Daher verließ er wortlos das Zimmer und fuhr nach hause. Als die Tür zuging, drehte sich Jessica wieder auf den Rücken. Tränen liefen über ihr Gesicht. Warum hatte ihr Vater nicht mit ihr darüber sprechen können, bevor er diese Frau zu ihr rief? Was hatte ihn daran gehindert. Warum vertraute er ihr nicht mehr. Warum vertraute sie ihm nicht mehr? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antwort wußte. Krampfhaft versuchte sie, darüber nachzudenken. Aber es fiel ihr nicht ein. Der einzige Schluß, zu dem sie kam, war, daß sie alles verkehrt gemacht hatte. Aber was? Sie hatte immer das getan, was man von ihr verlangte. Oft hatte sie ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche sogar in den Hintergrund geschoben. War das verkehrt gewesen? Sicher, aber wie hätte sie es anders machen können. Man hatte sie in diese Rolle gedrängt. Sie hatte sich in eine Position gespielt, in der sie abseits jeder Macht war. Entgegen ihrem früheren Glauben besaß die "First Lady" doch viel Macht, wie man jetzt an Caro sah. Aber hätte sie Harry den je beeinflussen können? Sie war nicht der Typ dazu. Caro war da ganz anders. Trotzdem wollte sie niemals so sein wie sie. Jessica verabscheute diesen Typ von Mensch. Sie haßte solche Leute. Aber wie war es möglich, einen Mittelweg zu finden? Der Mittelweg wäre ideal gewesen. Aber nun war es zu spät. Caro würde nie zulassen, daß sie noch einmal an eine höhere Position gelangte. Beide konnten sich noch nie leiden. Aber was hatte das jetzt noch für eine Bedeutung. Was hatte es für eine Bedeutung für ihren Vater? Was mußte er jetzt von ihr denken? Er wußte ja nichts von den Gründen und wenn er nicht Jessicas Tagebuch las, würde er es auch nicht erfahren. Seit der Scheidung von seiner Frau Marion war er sowieso nicht mehr so offen wie früher. Er glaubte jetzt, er müsse etwas beweisen. Er müsse der gute Vater sein, nachdem Jessicas Mutter sie so verletzt hatte. Er glaubte, Jessica das geben zu müssen, was ihr von seiner Frau genommen wurde. Aber Hartmut kannte auch nur die halbe Geschichte. Er wußte wenig von ihr. Zu wenig.
Jessica dachte zurück. Sie dachte an eine Zeit, in der sie noch bei ihrer Mutter lebte. Damals war ihr Vater ständig unterwegs, und damals lebte ihre Zwillingsschwester Jenny noch. Äußerlich waren Sie beide nicht zu unterscheiden gewesen. Trotzdem waren sie so verschieden gewesen. Jenny war ein völlig anderer Mensch als Jessica. Sie liebte andere Fächer, andere Kleidung und war überhaupt anders. Trotzdem hatten die beiden Mädchen sich immer sehr gut verstanden. Marion arbeite damals noch als Lehrerin in der DDR. Es war überhaupt vieles anders gewesen. Jessica hatte in ihrer Jugend viele schöne, aber auch viele negative Erlebnisse gehabt. Sie und Jenny waren einander so vertraut, daß sie irgendwelche Geheimnisse voreinander nicht kannten. Sie kannte einander besser als jeder andere. Obwohl ihre Mutter Marion meist nur ihre Schwester Jessica angriff, litt Jenny sehr unter ihr. Niemand wußte, warum Jessica sehr oft von ihr Schläge bekam. Vielleicht war sie zu oft zur falschen Zeit am Falschen Ort gewesen, wenn Marion ins Zimmer trat und einen Schuldigen suchte. Sie stand fast immer in Reichweite ihrer Mutter und bekam deshalb meist den ersten Schlag. Bis Marion zu Jenny gekommen war, hatte sie sich meist schon wieder etwas beruhigt. Dann hatte sie sich meist schon fast wieder beruhigt. Jessica und Jenny haßten ihre Mutter aber nicht nur deswegen. Manchmal kam sie nachts in ihr Zimmer und setze sich auf Jessicas Bett. Ob Jenny dabei wachte, oder schlief, beachtete sie nicht. Sie ging immer zu Jessicas Bett, daß auf der linken Seite des Zimmers stand. Den Grund dafür wußten die beiden Mädchen nicht. Dort setzte sich Marion auf ihr Bett und zog die Bettdecke zurück. Jessica erstarrte in diesen Momenten. Sie hatte Angst. In ihr begann sich wieder diese Leere auszubreiten. Diese Leere, gegen die sie nichts ausrichten konnte. Marion faßte ihre Brust und begann sie zu massieren. Massieren war eigentlich noch untertrieben. Sie knetete direkt an ihr herum. Es tat Jessica verdammt weh, aber sie schwieg. Jessica hatte nie ein Wort darüber verloren. Jenny wußte davon, sie sah es ja fast jede Nacht, aber auch sie traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen. An jenem Abend war Marion mal wieder besonders schrecklich. Zu Jessica. Sie weinte vor Angst, aber Marion machte nur noch weiter. Bis Jenny plötzlich aufstand und auf Marion zu trat. "Bitte hör auf Mutti.", hatte sie gesagt, aber war nun folgte, vergaß Jessica ihr Leben lang nicht. Marion holte aus und schlug ihre Tochter zu Boden. Jenny stand wieder auf und ging mit den Worten: "Bitte tue Ihr nichts.", wieder auf sie zu. Marion war geladen. Wer sie jetzt gesehen hätte, hätte nicht geglaubt, daß sie am Tag Kinder in der Schule unterrichtete. Nein. Marion hatte kein Herz. Jessicas Alpträume wurden war, den Marion stürzte sich auf ihre Schwester und erstach sie mit einem Messer, das sie sich gerade gegriffen hatte. Jessica schloß die Augen. Wie konnte ein Mensch so etwas böses tun? Alles was sie einmal über den Teufel gehört oder gelesen hatte, verband sie in dieser Person. Man mußte bedenken, daß Jessica erst in die dritte Klasse ging. Aber an Schule dachte sie jetzt nicht. Jessica dachte in diesem Moment eher an ihre tote Schwester. Sie hielt ihren Kopf im Schoß und weinte über ihm. Das war das einzige, daß sie für Jenny tun konnte. Niemand hatte sie so geliebt wie sie. Niemand. Jessica ging an Jennys Schrank und holte ein Buch heraus. Sie schlug es auf. Müde betrachte sie die ersten Zeilen in den Buch: "Ich schreibe dieses Buch nur für mich. Sollte jemand außer mir dieses Buch dieses Buch lesen, so bricht er entweder mein Vertrauen, oder mich gibt es nicht mehr. Ich hoffe, daß Du Jessica es gefunden hast. Den Du bist momentan der einzige Mensch, dem ich vertraue. ..." Jessica klappte das Buch zu und versteckte es an einem Platz, in dem auch ihres lag. Dann legte sie sich in ihr Bett und schlief ein. Jenny hatte sie hierbei fest an sich gedrückt. Diese Nacht sollten sie noch einmal zusammen verbringen. Eine letzte Nacht, den es war früh am Morgen als Jessica aufwachte. Sie ging zum Schrank und holte sich einige Pullover heraus. Sie packte eine Tasche mit ihren Sachen, packte ihr Schulzeug in ihren Rucksack und verließ mit Jenny und ihrem Fahrrad Berlin in Richtung Nirgendwo. Als sie das Ortsausgangsschild von Berlin sah, ging gerade die Sonne auf. Jessica fuhr bis zu einem Baumhaus und stieg dort erschöpft ab. Sie lud Jenny und ihre Sachen ab und kletterte in den Baum. Beide waren vor einem Jahr das letzte Mal hiergewesen. Nichts hatte sich verändert. Dieser Fleck war so abseits der Verkehrswege, daß hier nie ein Mensch außer den Pflügen und den Mähdreschern auf den Feldern vorbei kam. Ganz in der Nähe floß ein kleiner Fluß von ungefähr 5 Metern Breite und bis zu 1,50 m Tiefe ins Tal. Große und kleine Fische schwammen den Fluß hinauf und hinab. Ein idealer Zufluchtsort, von dem niemand außer Jenny und Jessica wußten. Sie hatten dieses Paradies vor Jahren einmal gefunden und sich die Höhle gebaut. Niemand sonst wußte davon. Das nächste Dorf lag 3 Kilometer stromabwärts. Die Chance, entdeckt zu werden, war also äußerst gering. Jessica kniete sich auf den Boden des Hauses und betete für Jenny. Gott möge sie aufnehmen und sie beschützen. Jessica kniete lange auf den Brettern des Baumhauses. Schließlich verspürte sie ein leichtes Hungergefühl. Langsam stand sie auf und griff in ein Geheimfach, aus dem sie eine Angelschnur und einen Haken herausholte. Dieses band sie an einen Stock, suchte sich ein paar Würmer und stellte das Ganze sicher auf. Danach ging sie zur Hütte zurück, vor der noch immer ihre tote Schwester Jenny lag. Jessica holte einen alten Sparten aus der Höhle und begann, ein Loch zu graben. Es war eine harte Arbeit, aber Jessica wollte ihrer Schwester ein schönes Grab bereiten. Sie hob ein tiefes Loch aus und begrub ihre Schwester darin. Aus zwei Brettern bastelte sie ein Kreuz, in das sie die Worte "Jennifer Schneider" hinein schnitzte. Als sie damit fertig war, neigte sie der Tag schon wieder dem Abend zu. Jessica schaute nach ihrer Angeln und holte einen großen Fisch aus dem Wasser. Über dem offenen Feuer gebraten schmeckte er hervorragend. Allerdings mußte sie in einem solchen Moment immer an Jenny denken. Wie gerne wäre sie auch diesen Sommer wieder mit ihr hier heraus gefahren? Aber das ging ja jetzt nicht mehr. Jennys Körper war zwar in ihrer Nähe, aber trotzdem fühlte sich Jessica so allein. Warum war das alles so gekommen? Warum konnte man nicht vernünftig mit ihrer Mutter über alles reden? Warum war alles so furchtbar kompliziert? Wo war Jessicas Vater Hartmut? Alles Fragen, die Jessica in diesen Stunden beschäftigte. Warum konnte Hartmut nicht bei ihr sein? Warum konnte er sie nicht trösten? War er wirklich so beschäftigt gewesen, daß er das Leiden der Mädchen nicht bemerkt hatte. Verschloß er die Augen, oder steckte er etwa mit Marion unter einer Decke. Jessica tendierte zum zweiten. Hartmut war nicht der Typ, der es dulden könnte, wenn jemand mißbraucht wurde, aber er hatte auch nicht die Durchsetzungskraft, sich gegen die ältere Marion durch zusetzten. Marion war immerhin 15 Jahre älter als Hartmut. Er war ihr Schüler gewesen, und das merkte man bis heute. Hartmut hatte nicht die Liebe zu Marion gedrängt. Es war etwas anderes gewesen. Etwas, daß bis zum gestrigen Tag vollständig existiert hatte. Es war in ihrer Abschlußfahrt gewesen, als Marion in das Zimmer der Jungen trat. Sie hatte mit dem Finger auf Hartmut gezeigt, der die damals sehr gutaussehende Dame sehr gerne mochte. Marion hatte ihn in ihrem Zimmer verführt. Das Ergebnis waren Jennifer und Jessica gewesen. Hartmut hatte diese Nacht viele Male verflucht, den nachdem er Marion geheiratet hatte und die Kinder geboren waren, wurde es für ihn zu hause unerträglich. Er war oft auf Geschäftsreisen und Weiterbildungen gewesen, um dem Streß zu hause zu entgehen. Aber dafür mußte er einen hohen Preis zahlen. Hartmut liebte seine Töchter. Sie waren das einzige, was ihn nach hause trieb. Hartmut hatte zwar schon seit einiger Zeit, eigentlich seit Jahre, den Verdacht, daß etwas mit seinen beiden Mädchen nicht stimmte, aber er hatte nie herausfinden können, was. Marion lächelte nur, wenn er das Thema ansprach, und die Mädchen sah Hartmut immer seltener. Dafür sorgte Marion schon. Wenn sie zusammen waren, dann nur in ihrer Anwesenheit. Da konnte er wohl kaum eine ehrliche Antwort bekommen. Alle drei litten sehr darunter. Aber es war nicht zu ändern, so dachte Hartmut. Jessica saß an ihrem Bach und besah sich den Sternenhimmel. Aus den Sternen formte sie alle bereits existierenden und alle noch nicht existierenden Sternbilder. Sie hatte eine lebhafte Phantasie. Sie nahm sich ihr Tagebuch und schrieb ihre Gedanken auf. Sie schrieb über die Schule, über den Heimweg, das Mittagessen, aber nicht über Marion oder Jenny. Nein, daß konnte sie noch nicht. Als es langsam wieder hell zu werden begann, legte sich Jessica auf ihr Lager und schlief. Als die Sonne ihren höchsten Stand bereits überschritten hatte, stand Jessica auf. Sie vertilgte den Rest von ihrem Fisch und ging zu dem Grab ihrer Schwester. Nachdem sie gebetet hatte, pflanzte sie einen Baum auf die Stelle, wo sie am Tag zuvor ihre Schwester begraben hatte. Es war eine Buche. Jessica goß sie und freute sich über ihre Tat. Sie wollte versuchen, das beste daraus zu machen.
Ihr Blick glitt über die Felder. Dort entdeckte sie ein sich näherndes Fahrzeug. Ohne es zu wollen, verkrampfte sich Jessica. Langsam und in gebückter Stellung schlich sie sich hinter einen Busch und beobachtete von dort, wie der Trabant immer näher kam. Er hielt vor dem Baumhaus. Ein Mann in einem schwarzen Mantel stieg aus und kam auf Jessica zu, ohne sie hinter dem Gebüsch zu entdecken. "Jessica." rief er zwei mal laut. "Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, wie es zu dem allem kommen konnte. Bitte versuch mir zu verzeihen." Jessica kannte diese Worte. Hartmut hatte das schon oft gesagt. Aber getan hatte er nie etwas. Wozu sollte sie sich also zeigen? Er würde sie so wie so nur zu Marion bringen. In Jessica kochte die Wut. Was stellte sich der Kerl eigentlich vor? Meinte er, nur weil er jetzt zu ihr gekommen war, konnte er alles ungeschehen machen? Nein. Er hatte Schuld am Tod ihrer Zwillingsschwester, und die sollte er erst bereuen. So leicht wollte sie es ihm nicht machen. Hartmut blickte lange in den Busch. Ob er Jessica sah oder nicht, konnte man hierbei nicht sagen. Vielleicht sah er sie ja. Hartmut drehte sich um und ging zum Grab seiner Tochter. Dort kniete er sich hin. Er sah die frisch gepflanzten Bäume und begann zu lächeln. Er sprach leise ein Gebet und stand wieder auf. Als wäre es unabsichtlich, ließ er hierbei einen Brief aus der Tasche fallen und ging dann zum Auto zurück. Nachdem er eingestiegen und gefahren war, trat Jessica aus ihrem Versteck hervor und trat an Jennys Grab. Sie hob den Brief auf und besah ihn sich. Er war zugeklebt. Auf dem Umschlag stand: "An meine Töchter Jennifer und Jessica." Jessica öffnete den Umschlag. Darin befanden sich einhundert Mark und ein Brief. Jessica faltete den Brief auseinander. Er begann mit den Worten: "Hallo. Ich weiß, daß ich irgend etwas schreckliches passiert ist. Ich hoffe, Euch geht es trotzdem gut. ..." Jessica blickte auf. Was hoffte er? Er hoffte, es gingen ihnen gut? Gut? Sie hatte vor kurzem ihre Schwester beerdigt. Wie konnte es ihr da gut gehen? War er verrückt? Wütend über die Welt knüllte Jessica den Brief und warf ihn in die Glut des bereits niedergebrannten Feuers. Nachdem der Zettel verbrannt war, ging sie zum Grab ihrer Schwester zurück. Sie zog ein Messer aus ihrem Gürtel und berührte damit ihre Handfläche. Ihr Gesicht war ernst. Haß sprühte aus ihren Augen, doch dieser Haß richtete sich nicht gegen ihren Vater, sondern gegen ihre Mutter. Wie haßte sie diese Frau? Wie abhängig war sie von ihr gewesen? Gewiß, sie war ihre Mutter, doch sie war nicht die Mutter, die sie sich immer gewünscht hatte. Bei weitem nicht. Mit Vater war das anders gewesen. Aber wann war der schon zu hause. Jessica wollte und konnte ihm dafür keinen Vorwurf machen. Sie wußte selbst, wie sehr er darunter litt. Was ihn allerdings davon abhielt, mit den Kindern einfach abzuhauen, konnte sie sich nicht vorstellen. Hartmut sprach nie über die Zeit damals, und Marion hätte den Teufel getan. Wie war es überhaupt zu diesem Ergebnis der Nacht gekommen? Jessica konnte das alles nicht verstehen.
Auch heute noch nicht. Jetzt, wo es über sieben Jahre her war. Jessica waren in ihrem Bett die Tränen in die Augen gelaufen. Wieso mußte ihr das passieren? Das Hartmut sofort nachdem er sie gefunden hatte, zu Marion fuhr, wußte sie bis zum heutigen Tag nicht. Sie begann damals aus Laub und kleinen Stöcken kleine Dinge zu basteln, die sie dann manchmal in einem kleinen Dorf in der Nähe gegen wichtige Dinge tauschte, die sie zum Leben brauchte. Der Sommer verging schnell. Jessica erinnerte sich an den schönsten Sommer, den sie bis dahin erlebt hatte. Sie badete täglich im kühlen Naß und begann, das Leben wieder zu lieben. Aber auf einen schönen Sommer folgt bekanntlich der windige Herbst und darauf der kalte Winter. Kälte und Eis trieben Jessica wieder nach Berlin. Wie haßte sie ihre Stadt, aber ihr war klar, daß sie nicht da draußen weiterleben konnte und wollte. Jessica hatte in diesem halben Jahr viel gelernt. Es war nicht so, daß sie einen Winter nicht überlebt hätte, aber gerade jetzt in dieser dunklen Jahreszeit sehnte sie sich nach einer Familie. Sie dachte an die freundlichen Worte ihrer Schwester und stellte sich vor, wie es wäre, in einer richtigen Familie zu leben. Daher war sie in die Stadt aufgebrochen. Sie stand in einer der unzähligen Straßen und lehnte sich an eine Wand. Ihr Gesicht war etwas rau, aber nichts konnte von ihrer Glücklichkeit ablenken. Jessica fühlte sich frei. Vor nicht einmal einem Jahr hätte sie nie geglaubt, daß sie jemals so frei sein würde. Eine Frau blieb vor ihr stehen. Sie mochte etwa 30 Jahre alt sein. So genau konnte Jessica das nicht sagen. "Hallo Kleines.", sagte die Frau. Sie sah nett aus. "Hallo.", antwortete Jessica. "Wie heißt Du, meine Kleine?" fragte die Frau. Jessica sah sie an und entschied, daß man ihr vorläufig trauen konnte: "Jessica.", antwortete sie. Die Frau nickte: "Ich bin Michaela. Michaela Klein. Und wie heißt Du mit Nachnamen?" Jessica hatte diese Frage erwartet. Sie tat, als könne sie sich nicht daran erinnern und antwortete mit: "Ich weiß nicht." Die Frau nickte. "Ist in Ordnung." Sie hielt einen Moment inne, bevor sie weiter sprach: "Weißt Du, ich habe Hunger. Wie wäre es, wenn ich Dich zu einer Bratwurst einlade und Du mir etwas über Dich erzählst." Michaela schaute an dem Kind herunter und bewunderte im Geheimen ihre Kleidung. Eine aus Halmen geflochtene Hose und Jacke. Wieviel Arbeit mußte das gemacht haben? Das Mädchen schien darin nicht zu frieren, obwohl das Thermometer unter null war. Jessica nickte und ging mit der Frau zu dem Bratwurststand. Michaela konnte ihre Augen nicht von der Hose des Kindes lassen. Immer wieder schüttelte sie langsam den Kopf. Sie bestellte zwei Bratwürste und reichte Jessica eine davon. Diese schaute auf die Wurst und wartete, bis Michaela abgebissen hatte. Ohne daß es ihr selbst bewußt wurde, glitt Michaela ein Lächeln übers Gesicht. Jessica biß von der Wurst ab und kaute genüßlich darauf herum. Fleisch hatte sie in diesem Sommer nur selten gegessen, wenn ihr ein kleiner Hase über den Weg gelaufen war. Aber das war auch immer seltener geworden, je später die Jahreszeit. Michaela war schon längst fertig, als Jessica noch immer genüßlich kaute. "Großen Hunger scheint sie nicht zu haben.", dachte Michaela und besah sich nochmals die Kleidung. Man konnte nicht sagen, daß das Mädchen schlecht aussah. Sie war gut ernährt, ihr Haare und ihre Haut waren sauber. Wie kam dieses Mädchen auf die Straße? Wäre die Kleidung nicht gewesen, so hätte Michaela darauf getippt, daß sie erst seit ein oder zwei Tagen auf der Straße war. Aber so? Wer war dieses Mädchen, wo kam sie her? Fragen über Fragen, die alle beantwortet werden wollten. Aber zuerst wollte Michaela ihr Vertrauen gewinnen. Dann sollte alles weitere folgen. Sie bot der kleinen an, mit zu ihr zu kommen, um dort in einem warmen Bett schlafen zu können. Obwohl sie anfangs etwas abgeneigt war, willigte Jessica schließlich ein. Beide fuhren zu Michaelas Wohnung, in der sie mit ihrem Mann Mike und ihrem Sohn Harald lebte. Harald erwartete seine Mutter bereits ungeduldig, da sie ihm etwas besonderes versprochen hatte. Als er den Schlüssel seiner Mutter hörte, sprang er zur Tür und öffnete, bevor Michaela ihn ins Schloß stecken konnte. Die Blicke von Harald und Jessica trafen sich. Harry mochte elf Jahre alt sein. Jessica war jetzt neun. Haralds ersten Worte waren: "Nanu Mutti. Wenn bringst Du denn da mit?" Jessica schaute ihn neugierig an. "Das ist Jessica. Ich hoffe, sie wohnt eine Weile bei uns. Jessica, daß ist Harald. Ich hoffe, Ihr werdet Euch verstehen." Harry nickte. "Warum nicht?" sagte Harry. Beide gingen in Harrys Zimmer. Dort war eine Modelleisenbahn aufgebaut. Jessica überblickte sofort das "Chaos" der vielen Gleise und Weichen. Auf einigen standen Personenzüge, auf anderen standen Transportwagen. Harry drehte den Trafo auf und ließ den Personenzug fahren. "D-Zug von Leipzig über Berlin nach Rostock. Bitte zurücktreten von der Bahnsteigkante." krähte er. Jessica lächelte, und so mußte auch Michaela lachen. Beide schmissen sich auf sein Bett und lachten.
Heute im Krankenhaus dachte Jessica an diese ihre ersten Minuten mit Harry nach. Wie lieb war er damals gewesen. Aber es sollte noch eine ganze Weile dauern, bis sie zu einem richtigen Liebespaar wurden. Wie verspielt waren sie damals noch gewesen? Aber sie waren ja noch so jung gewesen. Das damals der 23. Dezember war, wußte Jessica nicht. Nur noch einen Tag bis Weihnachten. Harry hatte sich schon so auf den Weihnachtsmann gefreut, aber das Fest rückte in den Hintergrund, wenn er mit Jessica spielte. Michaela war wie verzaubert von den beiden. Selten hatte sie ihren Harald so strahlen gesehen. Harry schlief schon seit Ewigkeiten in einem Doppelstockbett, wovon das obere meist mit Spielzeug beladen war. Warum er eines hatte, wußten nur seine Eltern, er aber nicht. Dafür war er noch zu jung. Michaela räumte mit Harry das obere Bett frei und bezogen es mit Bettwäsche. Danach ließ sie die beiden wieder alleine. Es war in der Zwischenzeit schon spät geworden. Nachdem sich Jessica gewaschen hatte, schlüpfte sie in den Schlafanzug, den Michaela ihm hingelegt hatte und stieg ins obere Bett. Es war schön, endlich wieder in einem warmen Bett liegen zu können. Das letzte Mal lag schließlich schon eine ganze Weile zurück. "Jessica?" fragte Harry nach einer Weile leise. "Warum bist Du nicht zu hause bei Deiner Mami?" Jessica drehte sich auf den Rücken. Eine Träne lief aus ihrem linken Auge. "Ich habe keine Mutter mehr." Ihre Stimme klang so ernst wie lange nicht. "Ist sie tot?" fragte Harry. Jessica zögerte. "Ich hoffe es.", sagte sie leise. "Was ist mit Deinem Papa?" fragte Harry nach einer Weile. Jessica antwortete nicht mehr. Sie war schon eingeschlafen.
Nach erquickendem Schlaf wachte Jessica am Morgen auf. Das Haus war noch ruhig. Ziemlich ruhig. Ganz leise kletterte Jessica aus dem Bett schaute Harry an. Er schwelgte noch in Träumen. Seinem Lächeln auf den Lippen entnahm Jessica, daß es ein schöner Traum war. Vielleicht handelte er ja auch von ihr. Leise öffnete sie die Tür und ging auf die Toilette. Als dies getan war, besah sie sich die Wohnung genauer. Ein Bad, eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer von Michaela und Mike Klein und Harrys Kinderzimmer. Eine schöne Wohnung. An den Wänden hingen schöne farbige Bilder von Walen und anderen Meeressäugern. Michaela hatte sie hier aufgehängt. Sie war fasziniert von diesen Riesen in den Weiten des Meeres. Es war Warnsinn. Jessica ging mit offenem Mund von Poster zu Poster. Ohne das sie es mitbekam, öffnete sich leise hinter ihr die Tür zu dem Schlafzimmer der Erwachsenen. Leise trat Michaela heraus und erblickte Jessica, die gerade vor dem Bild eines Pottwals stand. Sie trat hinter sie und streichelte über Jessicas Haar. Als Jessica ihre Hand spürte, schloß sie die Augen. Diesen Augenblick wollte sie genießen. Wie lange hatte sie niemand mehr gestreichelt? Sie schmiegte sich an Michaelas Hand. Michaela selbst mußte lächeln. Da kannte sie dieses Mädchen erst wenige Stunden. Trotzdem schien sie ihr zu vertrauen. "Schläft Harry noch?" fragte Michaela. Jessica nickte. "Gut. Ich suche Dir erst einmal Sachen heraus. Michaela verschwand kurz in ihrem Zimmer und kam mit einem roten Kleid zurück. Sie sah, wie Jessicas Augen aufleuchteten. So ein schönes Kleid hatte sie noch nie gesehen. Am liebsten wäre sie Michaela an den Hals gesprungen. Michaela half ihr beim Anziehen. Das Kleid paßte zu Jessicas Gesicht mit ihren schwarzen Haaren und ihrem Körper wie nichts anderes. Es war wie für sie geschneidert. Die beiden Frauen lachten. Freudig führten die beiden den Männern das Kleidungsstück vor. Beide fanden, daß es zu Jessica paßte. Alle vier deckten zusammen den Frühstückstisch. Michaela machte für die Kinder Kaukau und für sich und ihren Mann Kaffee. Als alles auf dem Tisch stand, setzten sie sich gemeinsam hin. Jessica faltete die Hände. Sie hatte sich im letzten halben Jahr angewöhnt, Gott für jede Malzeit zu danken, die sie genießen durfte. Früher hatte ihre Mutter ihr das Beeten immer verboten, aber die war ja weit weg. Harry schaute Jessica erstaunt an: "Was tust Du da?" Jessica schaute zurück und sagte: "Ich danke Gott, daß ich Euer Gast sein darf." Michaela sah ihren Mann an. Ihre Blicke trafen sich. "Wie alt ist dieses Mädchen?" fragte sich Mike. Er sprach die Frage nicht laut aus, sondern wunderte sich nur. Sie aßen gemeinsam die frischen Brötchen, die Michaela gebacken hatte. Auch wenn sie in den vergangenen Monaten nie gehungert hatte, war es für Jessica ein Festmahl, wie sie lange nicht gegessen hatte. Als Michaela Jessica beim Kauen zusah, bekam sie Mut: "Jessica. Darf ich Dir eine Frage stellen?" Jessica nickte kurz und schluckte den Bissen hinunter: "Ja, natürlich." Michaela war in diesem Moment verunsichert, aber sie stellte die Frage trotzdem: "Jessica. Warum bist Du von zuhause weggelaufen?" Das Mädchen schaute sie an, als hätte sie auf diese Frage gewartet. Nicht direkt gewartet, aber sie schien sich alles gut durchdacht zu haben. "Meine Mutter hat mir sehr weh getan. Sie hat meine Schwester umgebracht. Ich will nicht, daß mir das gleiche passiert." Die beiden Erwachsenen schluckte. Was hatte diese Kind da gesprochen? Konnte das der Wahrheit entsprechen? Konnte eine Mutter so grausam sein? Niemand wußte es besser als Jessica. Es waren die ersten Mal, daß sie etwas dazu sagte. Sie hatte noch nie mit einem fremden Menschen darüber gesprochen. Fremd hieß, alles was nicht ihre Schwester war. Aber die war nicht mehr da. Jessica konnte es keinem anderen erzählen, als jetzt ihnen. Michaela hatte das Mädchen in ihr Herz geschlossen. Warum sollte sie lügen? Sie sah keinen Grund dafür. Trotzdem erschien die ganze Geschichte ihr komisch. Sie beschloß, später noch einmal danach zu fragen. Nach dem Frühstück gingen die beiden wieder in Harrys Zimmer. Michaela und Mike blieben in der Küche zurück. "Was meinst Du?" fragte Mike nach einer Weile. Michaela zuckte die Schultern. "Ich weiß nicht. Ich werde morgen mal die Polizei anrufen und fragen, ob sie ein Mädchen vermissen. Aber heute soll sie sich erst noch ausruhen." Mike nickte. "Ich glaube, das ist das Beste."
Auch wenn sie es nicht bedachten, verfolgte Jessica damals das Gespräch mit halbem Ohr. Heute, Jahre später erinnerte sie sich an das schönste Weihnachtsfest in ihrer Jugend. Das sie Tage später auf dem Jugendamt auf ihre Mutter traf, war ihr noch bewußt, aber es beeinflußte ihre positive Erinnerungen nicht. Es war im neuen Jahr. Michaela war mit ihr hier hergekommen. An den Ort der Gerechtigkeit. Jessica saß mit Michaela und einem Anwalt auf einer Bank. Auf der anderen Seite saßen Marion und ihr Anwalt. Marion hatte ihre Schulsachen an. Ihr Gesicht war weiß. Sie wirkte hart und unerbittlich. Der Richter rief die Anklage, also Marions Anwalt, auf. Jessica war nicht klar, was ihre Mutter beabsichtigte, als sie Michaela Kindesentführung, Beeinflussung Minderjähriger und Verbreitung falscher Tatsachen vorwarf. Sie wußte auch nicht, was sie hier sollte. Sie sah Michaela an. Diese hatte Tränen in den Augen. Sie sah Jessica an: "Was machst Du auch?" Jessica wußte nicht, was sie sagen sollte und schwieg. Sie schloß die Augen und begann zu dösen. Plötzlich schreckte sie hoch. Marions Anwalt war vor sie getreten. Er sprach laut: "Laut Unterlagen des Einwohnermeldeamt besaß dieses Kind nie eine Schwester. Es ist mir und meiner Mandantin nicht klar, wie Jessica Schneider auf die Idee gekommen ist, eine Schwester gehabt zu haben. Nirgends ist davon etwas zu finden. Es handelt sich hier um Vorwürfe, die sich Jessica Schneider ausgedacht haben müßte. Ich beantrage, Jessica Schneider wieder Ihrer Mutter zurückzugeben und an eine Therapie teilnehmen zu lassen." Michaela zuckte. Jessica stand langsam auf. "Liebe Tante, mir ist nicht klar, wie ich meine Schwester begraben konnte, wenn sie nicht existiert hat. Ich weiß nicht, wie mir scheint, nehmen mich einige hier nicht für voll." Michaela versuchte, Jessica nach unten zu ziehen, aber es gelang ihr nicht. "Ich weiß, ich habe hier nichts zu sagen, und Sie schmeißen mich wie ein Lehrer raus, aber ich möchte Ihnen noch sagen, daß keine Alpträume mehr habe, seit ich von zu hause abgehauen bin. Meine Schwester habe ich gegraben. Vielleicht fragen Sie auch mal meinen Vater, der hat das Grab gesehen." Jessica drehte sich um und verließ den Saal. Sie fuhr zu der Wohnung der Kleins und setzte sich dort auf die Treppe. Michaela folgte ihr etwa eine Stunde später. Sie sah geschafft aus. Sie schloß wortlos die Wohnung auf und ließ Jessica hinein. Den Tränen nahe ging Michaela in die Küche. Was hatte sie getan, um so bestraft zu werden?
Heute tat sie Jessica leid. Aber trotzdem, was hätte sie anderes tun sollen. Sie war doch noch ein Kind gewesen. Jessica mochte auch heute noch Harrys Mutter sehr gerne. Sie hatte nie vergessen, wie sie sich für sie eingesetzt hatte. Michaela hatte das Gericht bis ins Frühjahr aufgehalten und ein Urteil immer wieder verschieben lassen. Am 30.3.89 wurde das Urteil gefällt. Es sah vor, daß Jessica zu ihrer Mutter zurückkehren und in eine Therapie mußte. Jessica nahm das Urteil mit versteinerter Miene auf. Michaela neben ihr begann zu weinen.
Auch Harry war sichtlich bedrückt. Er konnte das Urteil nicht verstehen. Jessica war so ein nettes Mädchen. Er glaubte nicht an das, was er hier hören mußte. Zusammen mit Marion fuhr Jessica zu ihr nach hause. Sie betrat die selbe Wohnung, in der Marion ein Jahr zuvor ihre Schwester umgebracht hatte. Es lief ihr ein Schauer über den Rücken. Beide setzten sich an den Küchentisch und blickten stumm vor sich hin. Viele Stunden. Keiner der beiden hob den Blick oder sagte ein Wort. Sie hatten noch überhaupt kein Wort miteinander gewechselt. Spät am Abend verließ Marion die Küche. Sie schloß die Tür ab und ging mit dem Schlüssel ins Bett. Doch Jessica konnte nicht schlafen. Nie wieder wollte sie in diesem Haus auch nur ein Auge zumachen. Langsam ging Jessica durch die Wohnung. Sie schaute sich die Bilder an den Wänden und im Fotoalbum an. "Komisch", dachte sie, "Wo sind die Bilder von uns beiden zusammen?" Sie besah sich das eine Bild genauer. Es war nicht sie, die auf diesem Bild abgebildet war. War es Jennifer? Aber wie konnte es Jennifer gewesen sein, wenn es Jenny nie gegeben hatte? Oder war sie es doch? Jessica war verunsichert. Sie hatte Jenny doch gesehen, sie hatte sie gehört, gefühlt. Nun auf einmal sollte sie nie da gewesen sein? Wen hatte sie dann draußen beerdigt, wenn es nicht ihre Schwester war? War sie wirklich verrückt geworden? Nein, denn dann würde sie sich diese Frage nicht stellen. Oder doch?
Am nächsten Morgen bat Jessica ihre Mutter, mit ihr zusammen Jessicas Sachen von den Kleins abzuholen. Es war das erste Mal, daß sie miteinander sprachen. Und Marion sagte: "Ja." Sie konnte nichts anderes sagen, denn daß Jessica ihre Sachen allein abholte, kam nicht in Frage. Und schließlich wollte sie nicht die schönen Sachen verkommen lassen. So machten sich Marion und Jessica zusammen auf. Marion klingelte an der Wohnungstür der Kleins. Es dauerte einen Moment, ehe Michaela öffnete, aber dann stand sie vor ihnen. Sie war allein. Sie hatte sich für diesen Tag frei genommen, um erst einmal alles verarbeiten zu können. Sie schaute Marion erstaunt an: "Sie wünschen?" "Hallo Michaela." sagte Jessica. "Guten Tag Frau Klein." sagte Marion. "Meine Tochter hat mich gebeten, ihre Sachen von hier mitzunehmen. Ich werde sie Ihnen bezahlen, damit Sie nicht in Unkosten gestürzt werden." Sie zog ein Bündel Geld aus der Tasche. "Wieviel Kosten hat Sie Ihnen verursacht?" Michaela war überrascht. "Wieso Kosten?" Marion zog 500 Mark aus der Tasche und reichte sie Michaela. "Ich will, daß Sie Jessica in Ruhe lassen. Sie wird diese Wohnung nie wieder betreten. Andernfalls werde ich Anzeige erstatten. Haben wir uns verstanden?" Jessica ging in die Wohnung und suchte ihre Sachen zusammen. Sie packte ihre Schulsachen und ihre Wäsche zusammen und schaute noch einmal zur Tür. Michaela redete noch immer mit Marion. Ob sie wußte, was Jessica vorhatte? Sie öffnete das Fenster. "Nur weg hier." dachte sie und sprang hinaus. Wenige Sekunden später war sie verschwunden. Marion wurde langsam ungeduldig. "Wo bleibt sie?" fragte sie. "Ich gucke mal." antwortete Michaela und ging in ihr Zimmer. Als sie das offene Fenster sah, blieb sie wie angewurzelt stehen. "Frau Schneider. Kommen Sie schnell!" waren ihre Worte, bevor Marion ins Zimmer trat. "Das habe ich nicht gewußt." sagte Michaela. "Das wird ein Nachspiel haben." meinte Marion und verließ das Haus. Jessica beobachtete, wie sie das Haus verließ. Langsam machte sie sich auf den Weg zum Baumhaus. Ihre Anziehsachen und Schulsachen auf dem Rücken stolperte sie dahin. Der Tag war regnerisch und kalt, aber Jessica spürte keine Kälte. Sie war mit ihren Gedanken ganz wo anders. Sie war bei Michaela, Mike, Harry und ihrer toten Schwester Jennifer. War davon war noch real? Vielleicht träumte sie das alles nur? Aber wann wollte sie denn aufwachen? Wann sollte Jennifer zu ihr sagen: "Wach auf Jessi. Du hast nur geträumt. Hoffentlich tat sie das bald. Der Gedanke, daß die Kleins wegen ihr Ärger bekamen, schien ihr unerträglich. Aber es half nichts. Jessica konnte nicht mehr mit ihrer Mutter zusammen leben.
Jessica lebte eineinhalb Jahre in der Hütte. Sie begann das Leben wieder zu lieben. Sie las sehr viel in ihren Schulbüchern, schrieb ihr Tagebuch und machte ihre tägliche Arbeit. Vorausblickend legte sie Vorräte an. Den Winter überstand sie ohne Probleme. Im Oktober 91 kehrte sie nach Berlin zurück. Was war hier geschehen? Alles schien anders. Es war auch alles anders. Nichts war so wie früher. Jessica fuhr zu der Wohnung, in der Familie Klein damals gewohnt hatten. Von diesem Haus erinnerte nicht mehr viel an Wohnungen. Es war zerfallen und abrissreif. Aus dem gegenüberliegenden Fenster schaute eine alte Frau aus dem Fenster. "Die sind alle nach drüben." rief sie Jessica zu. Jessica drehte sich zu ihr und trat näher. "Wo sind sie denn hingezogen? Ich meine Familie Klein?" Die Frau betrachte das Mädchen genauer: "Du siehst aus wie das nette Mädchen, das hier damals bei Michaela Klein gewohnt hat? Ach wie war die nett. Wo mag die jetzt sein? Wie hieß sie noch gleich. Moment fällt mir gleich wieder ein. ... Äh, ich glaube, sie hieß Jessica. Ja, Jessica hieß sie. Ich bin mir ganz sicher. Sie hat mir immer ..." "... beim Straßefegen geholfen." vollendete Jessica den Satz. "Tante Fieda, weißt Du, wo Michaela, Harry und Onkel Mike hin sind? Ich suche sie nämlich." Tante Frieda schlug die Hände über den Kopf zusammen: "Jessica. Wo um Gottes Willen hast Du gesteckt?" Jessica lächelte nur, aber das reichte Tante Frieda schon. Sie nannte Jessica die neue Adresse. Diese bedankte sich und verließ die Straße. Auf nach Westberlin. In den Teil der Stadt, den sie noch nie betreten hatte. Aber sie fand das Haus. Langsam ging sie die Treppe hinauf. An der Tür las sie das Schild mit dem Namen "Klein". Jessica klingelte. Im selben Moment wollte sie, sie hätte es nie getan. Sie hörte langsame Schritte. Sie hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Die Tür ging auf. Jessica blickte Harry in die Augen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. "Mutti. Es ist Jessica." rief er laut. Ein Schrei ertönte und Michaela stand in der Tür. Sie war bleich im Gesicht. Rasch zog sie Jessica herein und schloß die Tür. Jessica wußte damals nicht, warum sie das tat. "Oh Jessica. Oh meine Jessica." flüsterte Michaela, während sie Jessica an sich drückte. "Wo hast Du nur gesteckt?" Jessica lächelte sie an. "Ich glaube, der einzige, der das wußte, war mein Vater. Ich habe in der Baumhölle gewohnt, die Jennifer und ich vor Jahren gebaut haben. Auch wenn man mir einreden wollte, es hätte sie nie gegeben. Ich habe sie vor zweieinhalb Jahren dort begraben. Ihr und mein Vater seit die einzigen, die das jetzt wissen." Mike sah den Gast an. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er erinnerte sich an Marions Worte und die Luft wurde ihm eng.
Sechs Monate später hatte sich die Situation grundlegend geändert. Drei Dinge waren anders. Jessica lebte bei ihrem Vater Hartmut und Marion war aus der Schule entlassen worden. Das dritte, das schreckliche war, daß Mike Klein dafür sein Leben gelassen hatte. Mike war bei einem mißglücktem Einsatz der Polizei erschossen worden. Daran, das er nur zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war, glaubte Michaela nicht. Sie hatten vor seinem Tod anonyme Drohbriefe und nächtlichen Telefonterror ertragen müssen. Michaela war mit den Nerven am Ende. Das einzige, daß sie tröstete war, daß Jessica jetzt in Frieden leben konnte. Zumindest vorläufig. Den Hartmut war an diesen Ort gebunden. Wollte er in eine andere Stadt ziehen, so mußte Jessica in Berlin bleiben. Ein Urteil, daß Hartmut, Michaela, Jessica und Harry zwar nicht verstanden, aber es trotzdem akzeptieren mußten. So war es nun mal. Im Vergleich zu vorher hatten sie ja auch einiges erreicht. Wenn man bedachte, daß Jessicas Leben vor zwei Jahren in eine andere Richtung gelenkt werden sollte, mit der sie nicht leben konnte.
Jessica zog zu ihrem Vater und ging auf die selbe Schule, auf die auch Harry ging. Nur daß Harry zwei Klassen über ihm war. Aber das sollte sich ja ändern. Jessica fand in der neuen Klasse schnell Freunde. Mit Ricky und Cindy war sie sehr oft zusammen. Die drei war unternehmungslustig und machten sehr viel zusammen. Jessica lernte gut und viel in der Schule.
Heute wußte Jessica nicht mehr, wie sie sich damals irgendwann in Michael ihren Klassenkameraden verlieben konnte. Sie waren plötzlich zusammen. Das war aber schon in der siebenten Klasse. In dem Jahr, in dem Alex in der 7. und Harald in der 8. sitzen geblieben waren. Alex war in diesem Jahr oft krank gewesen. Es waren nicht seine Leistungen, die ihn dazu brachte, die Klasse zu wiederholen. Bei Harry war es die Faulheit, obwohl Jessica ihm immer wieder sagte, er müsse sich anstrengen. Sie war es, die mit ihm geübt hatte. Aber auch sie kam nicht gegen Harrys Dickkopf an. Michaela hatte nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr die Kraft, Beruf, Haushalt und Kind in den Griff zu bekommen. Der vernachlässigte sie Harry etwas, was sie sehr bedauerte, aber was sollte man machen. Nach mehren Streits mit Harry und seiner Mutter, die auf ihrer Seite war, verließ sie im Herbst 93 die Wohnung. Sie hatte damals die Hoffnung verloren, aus Harry würde noch etwas werden. Sie war nach hause gelaufen und hatte sich dort in ihr Bett gelegt. Wenige Wochen später war sie mit Mic zusammen. So begann der Haß zwischen Mic und Harry.
Sie waren zwei Jahre zusammen und hatten viel Spaß miteinander. Der Grund, warum sie sich trennten, war, wie konnte es anders sein, Harry. Jessica liebte ihn zu diesem Zeitpunkt zwar nicht, aber sie wußte, wie sehr sich seiner Familie für sie eingesetzt hatte. Es blieb ihr nichts anders übrig, als Harrys Entscheidung zu akzeptieren. Sie gehörte jetzt wieder ihm. Harry machte sie im Laufe der Jahre von sich abhängig.
Jessica liefen im Krankenhaus Tränen aus den Augen. Wie konnte Harry sie jetzt einfach fallen lassen? Sie verstand ihn nicht. Was hatte Caro, was sie nicht hatte? Warum behandelte er sie so anders? Was hatte sie verkehrt gemacht? Auf alle Fragen fand sie bloß eine Antwort: Sie war schwach, zierlich, nichts wert. Aber das konnte es doch nicht gewesen sein. Oder?
Jessica blickte an sich herab. Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Die Mittagspause war schon fast vorbei, als eine Schwester hereinkam. An ihrem Schild laß Jessica, daß es Schwester Nicole war. Sie wußte nichts von Alexanders Exfreundin. Nicole begrüßte Jessica freundlich und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Nachdem Jessica nickte, reichte Nicole ihr ein Fieberthermometer, daß sie sich unter den Arm stecken sollte. "Alexander ist ein netter Junge." sagte sie nach einer Weile. Sie setzte sich zu Jessica auf ihr Bett. Diese mußte sich aufrichten. "Alexander?", fragte sie. Sie mußte erst überlegen, wer das war. Schließlich war sie in den letzten Stunden ziemlich weit in die Vergangenheit abgerutscht. An die Gegenwart mußte sie sich erst wieder gewöhnen. Aber es dauerte nur zwei Sekunden, dann wußte sie, wen Schwester Nicole meinte. "Ja, das ist er. Er geht in meine Klasse, aber ich hatte bisher wenig mit ihm zu tun. Leider." Nicole lächelte: "Ich weiß. Du warst Harrys Freundin. Alex hat es mir mal erzählt. Wir waren lange zusammen. Er scheint Dich übrigens zu mögen." "Das scheint mir auch so." sagte Jessica. Beide Mädchen lächelten. Nicole mußte weiter arbeiten und verließ das Krankenzimmer.
Es war Abend als Hartmut im Krankenhaus eintraf. Er sah geschafft von Tag aus. In einer Tasche hatte er einige Sachen für Jessica. Leise betrat er das Krankenzimmer. "Hallo mein Schatz." Sagte er zu Jessica, die ihn anblinzelte. "Der Arzt sagt, Du kannst nach hause. Ich helfe Dir schnell beim Anziehen, und dann laß uns los düsen. Er reichte Jessica ihre Lieblingshose und einen Pullover, den sie gerne trug. Jessica schaute ihren Vater ruhig und ohne Hast an. "Was ist los mit Dir?" fragte sie. "Wovor hast Du Angst? Warum das Theater gestern mit der Phychologin?" Hartmut mußte Luft holen, bevor er versuchte, sie abzuwimmeln. "Jessica. Jetzt hör aber auf." Doch Jessica ließ nicht locker: "Was hat sie Dir erzählt? Ich bin klein und dumm? Papa, das was ich brauche, ist jemanden, dem ich mich anvertrauen kann. Versuch mich zu verstehen, bevor Du mich zu einer Frau gibst, die Du nicht kennst." Hartmut schüttelte unbewußt den Kopf. "Ich kann das einfach nicht.", sagte er. Jessica blickte auf ihr Bett und sagte: "Ich weiß, daß Du es auch nicht einfach hast." Sie schaute ihm in die Augen. "Aber ich möchte, daß Du weißt, daß ich mich von Dir allein gelassen fühle. Irgendwie kümmern wir uns zu wenig um einander. Wenn Du abends aus der Schule kommst, gehst Du ins Bett und stehst vorm Morgen nicht mehr auf. Weißt Du Papa, ich sehne mich nach der Zeit, wo wir zwei, wir drei richtig gute Freunde waren. Hartmut schüttelte sich: "Wir drei? Es gibt keine drei. Wann wirst Du das endlich begreifen?" Hartmut wurde rot. Jessica war verunsichert. "Wie kommt es dann, daß ich mich so genau an Jenny erinnern kann, wenn es sie nie gab?" fragte Jessica. Hartmut schüttelte den Kopf. "Das weiß ich doch nicht. Vielleicht phantasierst Du wieder." Er war sichtlich gereizt. "Zu wem hast Du damals am Kreuz gebetet, als ich in der Baumhöhle gelebt habe. Oder habe ich mir das auch nur ausgedacht?" "Das weiß ich doch nicht.", antwortete Hartmut. "Papa, warum bist Du nicht zum ersten Gericht erschienen, das am 30.3.89 entschieden hat, daß ich zu Mutter ziehen muß. Warum warst Du nicht da? Es ging um Deine Tochter." Hartmut schwieg. "Was hindert Dich, mir die Wahrheit zu sagen. Bitte sag mir nicht, daß Du es nicht weißt. Wir sind beide groß, was ist es." Jessica hatte sich aufrecht in ihr Bett gesetzt. "Ich denke, daß Du mit Frau Dr. Schmidt darüber reden solltest." Jessica schaute ihren Vater lange an, ohne ein Wort zu sagen. Hartmut schaute an ihr vorbei an die Wand. Ihre Blicke trafen sich nicht. Schließlich blickte Jessica ab. "Gut. Ich hätte Dir viel zu sagen, aber wenn Du mir nicht vertraust. Wenn Du mir nicht sagst, was Dir weh tut, kann ich das auch nicht. Ich dachte, wenigstens Du verstehst mich." Jessica drehte sich um und schloß die Augen. Leise verließ Hartmut über das Gesagte nachdenkend das Zimmer. Was war eigentlich damals passiert. Hartmut konnte sich an gar nichts mehr erinnern. Oder war es so, daß er sich daran nicht erinnern wollte? Jessica war voller Zweifel. Was war, wenn ihre Träume und Erinnerungen sie getäuscht hatten und es Jenny wirklich nie gegen hatte. Was war dann? War sie dann verrückt? War sie dann eine Irre? War sie dann das, was ihre Mutter vermeintlich zu ihr gesagt hatte. Oder spielten ihr ihre Gedanken und ihr Gedächtnis einen Streich? Jessica weinte jetzt. Sie weinte die ganze Nacht, bis Hartmut sie am Morgen abholte. "Jenny hat es nie gegeben!", flüsterte Jessica, als sie mit ihrem Vater das Krankenhaus verließ. Doch war dies richtig?
Nach der Schule hatte Caro ihre Gang zu einer netten Runde in den Keller eingeladen. Viele waren ihrer Einladung gefolgt und waren erschienen. Caro hatte eine Karte von ihrem Stadtteil ausgebreitet war gerade dabei, mit einem roten Stift die Straßen und Plätze einzutragen, an denen sich die Skorpions oft aufhielten. Harry lehnte entspannt an der Wand. "Nun.", begann Caro. "Ich glaube, es ist Zeit, mit diesem Chaoten namens Michael Steve Buhl abzurechnen. Ich will mich jedenfalls nicht mehr von ihm aufs Korn nehmen lassen." Die Gruppe nickte ihr zu. Langsam stand Harry auf: "Wißt Ihr. In den letzten Tagen hat sich vieles verändert. Gut. Wir waren eine Gruppe von Jugendlichen. Wir sind Jugendliche. Aber es ist nicht mehr so, daß wir wie Jugendliche Handeln." Caroline sah Harry an und wußte sofort, womit er weitermachen wollte. Er wollte alles rückgängig machen. Er wollte den Kampf zwischen den Banden nicht. Gewiß wollte er einen Kampf, aber nicht so einen. Caroline wußte, daß Harry ihrem Plan nicht zustimmen wurde. Dafür war er viel zu "gut". Sie wußte, daß Harry keine Angst hatte. Aber er hatte keine Angst, weil er genau wußte, worauf er sich einließ und worauf nicht. Caros Plan war größenwarnsinnig. Sie wollte alles. Die Mittel waren ihr egal. "Harry.", unterbrach ihn Caro. "Ich glaube, daß ist der Grund, warum wir um unser Recht kämpfen müssen. Wir haben sie einmal besiegt. Wir schaffen es auch noch ein zweites Mal." Caro schloß die Veranstaltung und ging zu Harry. Sie drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Die anderen verließen langsam den Raum. "Das ist Warnsinn Caro. Warum machst Du so etwas?" fragte Harry. "Ich will das nicht." Caro schaute ihn ernst an. "Weißt Du Harry. Ich will Dir nicht zu nahe treten, aber Deine Zeit bei den Snakes ist abgelaufen. Du kannst weiterhin dabei sein. Wenn Du Ärger machst, bringe ich Dich persönlich um." Harry wollte die Hand heben und zuschlagen, aber Caro bremste ihn. "Schau Dir Jessica an und frag sie, warum sie Tränen in den Augen hat. Nicht weil Du mit ihr Schluß gemacht hast, sondern weil ich es so will. Ich entscheide, was getan wird, und was nicht. Im Übrigen fände ich es gar nicht schlecht, wenn Du mit Mic ein Treffen organisierst. Die gesamte Bande, bewaffnet. Niemand soll verletzt werden. Aber sicher ist sicher. Ich will es morgen um 18.00 Uhr. An der gewohnten Stelle." Harry nickte kurz. "Wenn Du Jessica auch nur ein Haar krümmst, bist Du daran.", sagte er und wollte den Raum verlassen. Caro rief ihm noch hinterher: "Ach Harry. Denk daran, daß Du Jessica mitbringst, sonst kann ich nicht für Deine Sicherheit garantieren." "Verschwinde. Machtgeile Schlampe." sagte Harry rot werdend. "Frag Matthias, wie der Fick mit Deiner Jessica war. Neulich in der U-Bahn. Sie soll ja ganz schön um Hilfe geschrien haben. Aber keine Sorge, die Jungs haben ihr geholfen." Harry holte aus, doch Caro hatte sofort ihr Messer gezogen. "Wenn Du mich auch nur anfaßt, habe ich Order gegeben, Jessica in der Spree zu versenken. Überleg es Dir." Harry ließ den Arm sinken und verließ den Raum. "Vergiß Mic nicht.", rief ihm Caro hinterher. Harry antwortete nicht. Er war jetzt nicht in der Verfassung., noch etwas zu sagen. Leise verließ er das Gebäude. Caro blieb allein im Haus. Sie hatte ein Lächeln auf den Lippen. Sie war ihren Zielen wieder etwas näher gekommen. Aber um welchen Preis?
Jessica lag zu hause auf ihrem Bett. Hartmut hatte das Haus verlasen und war noch Geschäften nachgegangen. Die Uhr wurde spät. Gegen zehn Uhr hörte Jessica, wie jemand die Wohnungstür aufschloß. Freudig sprang sie in den Flur, um ihren Vater zu begrüßen. Doch es war nicht Hartmut. Es war ihr Vergewaltiger, dessen Namen sie nicht kannte. Jessica fiel auf die Knie und begann zu weinen. Er kam näher. "Hallo meine Kleine.", sagte der Typ, dem Jessica den Namen Dead Soul "Tote Seele" gegeben hatte. Warum, konnte Jessica nicht sagen. Für Jessica repräsentierte dieser Kerl den Tod. Wieder zwang er Jessica zu perversen Spielen, bei denen er sie auch schlug. Jessica litt furchtbare Schmerzen. Sie wurde vor sich selbst erniedrigt. Schließlich verließ er Jessica. Endlich.
Am Morgen stand Jessica früh auf und duschte sich. Langsam stieg sie aus der Dusche und blickte auf den Teppich im Flur. Er war blau mit kleinen grünen Kreisen. Jessica fragte sich, was sich ihr Vater gedacht haben könnte, als er ihn aussuchte. Für Jessica stellten die Ringe die Ketten, die Fesseln da, die sie in dieser Nacht gefesselt hatten. "Ein furchtbarer Gedanke." dachte Jessica und schlich sich in ihr Zimmer. Auf dem Bettlacken waren weiße Flecke. Spermaspuren? Jessica mußte den Atem anhalten. Bis eben hatte sie noch daran gedacht, daß sie wieder alles nur geträumt hatte. Aber diese Spuren schlossen das aus. Sie hatte Verkehr. Nur mit wem? War es Dead Soul, oder war es jemand ganz anders? Phantasierte sie wieder? Verstört ging sie ins Wohnzimmer und entdeckte dort die Karte von dem Mann, der ihr im Zug geholfen hatte. Sich umblickend steckte sie sie sich in die Tasche. Sie schlich sich in die Küche und blickte auf die Uhr. "Halb fünf. Furchtbar.", stellte sie fest. Langsam ging sie in den Flur zurück. Sich umblickend drehte sie sich einmal langsam um sich selbst. Ihr Blick fiel auf das Telefon und haftete an ihm. Sie fühlte den Zettel in ihrer Tasche. Langsam hob sie den Hörer ab und zog die Nummer aus der Tasche. Mit zitternden Fingern tippte sie die achtstellige Nummer ein. Am anderen Ende nahm jemand ab und meldete sich mit "Hallo." Jessica war wieder völlig verunsichert. "Guten Morgen. Ich bin Jessica Schneider. Das Mädchen aus der Bahn. Könnte ich bitte Klaus Heller sprechen." Jessica zitterte. Ein erneuter Blick zur Uhr machte ihr klar, daß sie mitten in der Nacht anrief. "Ich bin Herr Heller. Was kann ich für Dich tun?", fragte die Stimme freundlich. Jessica holte tief Luft. "Ich muß mit jemandem reden. Bitte weisen Sie mich nicht ab." Der Mann an der anderen Seite hustete. Dann fragte er: "Hat er Dich wieder angegriffen?" fragte Herr Heller. Jessica hatte Tränen in den Augen, als sie verneinte. "Wenn es das währe. Ich habe einmal meine Schwester begraben müssen. Heute erklärt man mir, es habe sie nie gegeben. Ich weiß nicht, was ich noch glauben kann, und vor allem wem? Bin ich verrückt?" Jessica verstummte. Heller mußte kurz durchatmen, bevor er versuchte, Jessica zu beruhigen. "Ich... Äh... Was sagen Deine Eltern den dazu?" fragte Heller. Jessica erzählte, während ihr Tränen aus den Augen liefen: "Meine Vater spricht nicht über das Thema. Er fertigt mich immer mit Ausreden ab. Ich kann nicht mit ihm darüber reden. Er sagt, ich spinne nur. Oder er sagt, er wisse nicht, was gewesen ist." Jessica brach in Tränen aus. "Bin ich verrückt?" Nun war Heller dran, aber er wußte nicht, was er dazu sagen sollte. "Das kann ich nicht sagen. Am besten Du kommst zu mir. Oder warte, ich komme zu Dir. Wo wohnst Du?" Jessica konnte nicht mehr. "Bitte nicht. Er will, daß ich zu Frau Schmidt gehe. Aber ich kann nicht mit dieser Frau. Er würde es nicht verstehen. Sie können nicht zu mir kommen. Können wir uns irgendwo anders treffen?" Sie vereinbarten Ort und Zeit. Dann legte Jessica auf. Ihre Jacke greifend, machte sie sich auf den Weg.
Eine halbe Stunde sah sie dem Mann wieder in die Augen, der sie in der Bahn gerettet hatte. "Ich bin Jessica.", sagte sie. Der Mann trat auf das Mädchen zu und blickte ihr ins Gesicht. Ein Schauer überfuhr ihn. Die Narbe auf der linken Wange, war noch offen. Jessica hatte ein blaues Auge. Das Nachthemd, das sie unter der Jacke trug, war hinten eingerissen. "Wer tut so etwas?" fragte sich Heller. "Es ist gut, daß Du gekommen bist.", sagte er und faßte Jessicas Hand. Diese zitterte noch. Jessica setzte sich auf den Barstuhl der Kneipe neben Heller. "Der Junge von neulich ist nicht hauptsächlich der Grund unseres Treffens hier?" fragte Heller. Jessica blickte ihn mit großen Augen an. Dann nickte sie. "Bin ich verrückt?" fragte sie mit diesen drei Worten. Heller schaute sie an. Sie hatte seine Neugier entfacht. "Ein Mädchen, daß mich, nachdem sie vergewaltigt wurde, fragt ob sie verrückt sei. Sehr interessant.", dachte er, doch was er sagte, war etwas anderes: "Natürlich sind Sie nicht verrückt. Aber ich würde Sie gerne näher untersuchen, um Sie besser einschätzen zu können. Können Sie mit in meine Praxis kommen?" Jessica nickte. Was sollte sie auch schon zu hause. Vater war eh nicht da, und wenn auch. Jessica folgte dem jungen Mann, der um die 30 Jahre alt sein mochte in seine Praxis. "Ich muß ihr Vertrauen gewinnen.", dachte Heller leise. Ohne Vertrauen erreiche ich gar nichts." Jessica setzte sich auf einen Sessel im Wohnzimmer. Heller setzte sich schräg hinter sie. "Was ist der Grund, warum Sie mich aufgesucht haben?", fragte Heller. Jessica war sich noch unsicher und schwieg deshalb. Heller gab ihr Zeit. "Sie kennen Harry King?" fragte Jessica. Heller mußte nicken, was Jessica aber nicht sah. "Was ist mit ihm.", fragte er. "Das ist mein Ex. An dem Tag, an dem er mit mir Schluß gemacht hat, hat alles begonnen. Er hat sich Caroline Foster zur Freundin genommen. Dieses Weib habe ich schon immer gehaßt. Caroline führt jetzt die Snakes an. Ich bin nur noch Abfall. Gut genug, um diesem Schwein von Matthias zu Diensten zu sein. Er hat mich geschlagen. Es tat verdammt weh. Ich kann nicht mehr. Können Sie mir helfen?" Heller durchschaute das Mädchen und wußte, daß dies nur die halbe Wahrheit war. Aber warum verschwieg sie ihm die andere. "Ich rate Ihnen, den Typen anzuzeigen. Es scheint ein Wiederholungstäter zu sein.", sagte Heller. Jessica nickte. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, welches Spiel hier gespielt wurde. Spielte Heller ein Spiel? Für diesen Moment waren Jessica die Spiele der Leute egal. Sie mußte mit jemandem reden. Mit jemandem, der ihr zuhörte, denn dies verkraftete sie nicht mehr lange.
Heller schaffte in diesen Stunden das, was sich Jessica zwar sehnlich wünschte, aber immer befürchtet hatte. Er brachte Jessica dazu, Matthias anzuzeigen. Der Prozeß schlich sich über 2 Monate hinweg. Für Jessica war dieser Weg der schwerste in ihrem bisherigen Leben. Das Schlimmste für sie war, daß sie mit den Menschen täglich zusammen sein mußte, die ihr einen großen Teil ihres Leides angetan hatten. Harry beschützte sie zwar vor Caros Attacken, dennoch war es nicht mehr der Ort, an dem sich Jessica wohl fühlte. Offiziell war er ja noch mit Caro zusammen. Doch das interessierte hier fast niemanden mehr. Harry hatte sich nur noch zum Ziel gesetzt, den Krieg zwischen der beiden Gruppen so unblutig wie möglich zu gestalten und Jessica aus allem raus zu halten. Am Tag, als Matthias von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, triumphierte Caro. Jessica wurde in dieser Nacht von Alpträumen geplagt. Sie hatte eine furchtbare Ahnung.
Am Morgen des 21.5.96 stand Jessica auf und ging ins Bad. Sie duschte sich, wie jedem Morgen. Es war an jedem Morgen die gleiche Zeremonie. Nur das sie sich nicht mehr durch die Spermaspuren erschrecken ließ, die Dead Soul in und an ihr hinterlassen hatte. Sie hatte gelernt, daß es halb so weh tat, wenn sie nicht um Hilfe schrie. Dann tat Dead Soul ihr nur halb so weh. Aber was war halb so viel? Es waren Schmerzen, die sie fast zur Aufgabe brachten. An jedem Morgen sah sie in der Küche auf das große lange Brotmesser, das sie von allem erlösen konnte. Aber sie faßte es nie an. Das konnte sie Harry nicht antun. Sie wußte, daß er nicht ohne sie konnte. Er sah immer so ernst aus. Jessica kannte ihn sehr gut. Besser als seine Mutter, und sie wußte, daß Harry sich durch sie am Leben hielt. Wenn sie nicht mehr wäre, hätte er sich schon lange das Leben genommen. "Oh mein Romeo.", flüsterte Jessica. Sie sank auf die Knie und begann zu beten. Sie betete, daß Gott ihr die Kraft gab, alles durchzustehen. Nachdem sie beendet hatte, setzte sie sich vor ihr Tagebuch. Sie schlug es langsam auf. Ihr Gesicht verzog sich etwas, als sie über die Seiten fuhr. Sie blätterte an das Ende und las den Eintrag vom Tag zuvor: "Schon heute abend weiß ich, daß morgen etwas passieren wird, daß ein neues Zeitalter in Berlin einläuten wird. Caro ist nicht mehr zu halten und ich sehe, daß sie über Leichen gehen wird. Gott. Ich bitte Dich, laß es nicht noch schlimmer werden. Sage mir, was ich falsch getan habe. Ich werde... ." An dieser Stelle hatte sie aufgehört, weil sie Schritte im Flur gehört hatte. Es war aber komischer Weise niemand zu sehen gewesen. Dead Soul kam immer erst eine Stunde später. Jessica hatte ihr Tagebuch wieder versteckt und hatte noch etwas gelesen.
Jessica traf Ricky wie jeden Morgen in der U-Bahn. Sie war fröhlich wie jeden Morgen. Etwas, daß Jessica nie richtig verstanden hatte. Aber es war ja auch etwas gutes. Warum sollte Ricky nicht glücklich sein? Als Jessica in die Klasse trat, waren schon alle außer Ricky und ihr versammelt. Sie entdeckte ein neues Mädchen. Sie hatte ein freundliches Lächeln und wirkte nett. Jessica nickte ihr zu, worauf das Mädchen zurück nickte. Ein Lächeln huschte über Jessicas Lippen. Dann wurde sie wieder ernst und blickte an die Tafel. "Mathe.", dachte sie. "Das fängt ja gut an." Mendal trat ins Klassenzimmer und begrüßte die Klasse. Jessica beachtete ihn nicht, sondern schaute nur geradeaus. Sie wollte heute keinen provozieren. Tatsächlich schien Mendal heute nicht auf Streit aus zu sein, den auch er ignorierte Jessica vollständig. Eigentlich war das merkwürdig, den gerade in den letzten Wochen hatte er seinen Terror extrem verstärkt. Was steckte dahinter? Mendal ging an den Lehrertisch und schaute in die Klasse. "Oh, ein neues Gesicht.", stellte auch er fest. "Ich bin Herr Mendal. Euer Mathematik und Physiklehrer. Ich hoffe, Du hast Dich mit Deinen Klassenkameraden schon bekannt gemacht?" Das Mädchen stand langsam auf. "Mendal? Habe schon einiges über Sie gehört. Ich bin Kathy Black. Warum ich hier bin, können Sie aus meiner Akte lesen." Mendal schaute das Mädchen überrascht an. Wie konnte sie so mit ihm reden? In der Klasse wurde es ruhig. Mendal ging auf Kathy zu und verschränkte vor ihr die Arme. "Mit dieser Einstellung wirst Du hier nicht zurecht kommen. Das garantiere ich Dir!" Mendal nickte Caro zu und drehte sich um. "Sie scheinen sich ja gut mit Mördern zu verstehen. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß Sie mich in Ruhe lassen. Andernfalls muß ich den Blick auf Caroline Foster als etwas anders interpretieren. Sie sind doch auch nur Opfer Ihrer Jugendsünde." Mendal blickte zu Boden. Dann sah er Kathy an. Sein Blick durchbohrte sie. Sie hatte seinen wunden Punkt getroffen. Haß quoll in ihm auf. Er öffnete den Mund, doch Kathy kam ihm zuvor: "Hören Sie Herr Mendal. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie lassen mich in Ruhe, und ich lasse Sie in Ruhe. Und jetzt wollen wir Mathe machen." Mendal war verwirrt. Er begann mit dem Unterricht. Kathy und Jessica vernachlässigte er. Jessica aus Haß und Kathy aus Furcht. Ja, Mendal hatte Angst vor Kathy. Sie war so direkt. Fast vollkommen. Mendal fand an ihr keinen Punkt, an den er angreifen konnte. Während er unterrichtete, schielte er zu Kathy. Was um alles in der Welt konnte er tun, daß sie ihm nicht in die Quere kam? Oder war sie das schon? Welchen Sinn mochte es haben, daß ein Mädchen am Ende der zehnten Klasse, also kurz vor den Prüfungen die Schule wechselte? Eigentlich war das nicht üblich. Mendal versuchte, sie an das Gespräch an diesem Morgen mit Frau Rheinberg zu erinnern. "Eine neue Schülerin.", hatte sie gesagt. Wo sie herkam, oder warum sie die Schule gewechselt hatte, war nicht klar gesagt worden. Frau Rheinberg hatte es nur angedeutet. Niemand hatte aber richtig darauf geachtet. Auch nicht Mendal. Er war viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt. Jessica blickte zu Kathy hinüber, ohne daß diese sie bemerkte. Auch sie fragte sich, wo das Mädchen so viel Mut hernahm. Man konnte sie nur bewundern. In Jessica regte sich aber auch ein Protest gegen dieses Mädchen. Wie konnte sie so mit einem Lehrer reden? Wie konnte sie sich nur derart benehmen? Was nahm sie sich eigentlich heraus? Sicher, er war Mendal, aber würde sie das auch mit den anderen Lehrern tun? Sicher! Jessica schüttelte den Kopf. Mit so einem Mädchen wollte sie nichts zu tun haben.
In der zweiten Pause mußten alle Schüler wie immer auf den Schulhof. Auch Jessica, die Snakes, die Skorpions und Kathy gingen hinaus. Kathy setzte sich unweit von Jessica auf eine Bank und schaute vor sich hin. Jessica sah, wie sich Caro mit den Snakes von hinten näherte. Doch bevor sie sie erreichten, drehte sich Kathy um. Jessica stockte der Atem. "Hallo Caroline.", sagte Kathy, während diese sie anstarrte. "Ich will keinen Ärger mit Dir!" sagte Caro. "Also, warum bist Du hier? Was sollte das vorhin mit Mendal? Willst Du den großen Max riskieren? Ich rate Dir, verpiß Dich Du Schlampe." Kathy schaute Caro nur kurz an und senkte dann wieder den Blick: "Ich will nicht, daß Du wegen mir Ärger bekommst. Also laß mich in Ruhe!" Caro riß ihr Messer aus dem Gürtel, doch Kathy hielt sie von einem Fehler ab. "Überlege Dir, was Du tust. Einen Mord, kannst Du vielleicht noch vertuschen und Jessica anhängen. Wenn Du mich tötest, wanderst Du in den Bau. Es wird Dir keiner mehr glauben. Sei vorsichtig Caro. In Deinem eigenen Interesse." Widerwillig steckte Caro das Messer wieder in ihre Gürteltasche. Obwohl Jessica ja vorher beschlossen hatte, daß Kathy ihr egal war, atmete sie auf. Irgendwie hatte dieses Mädchen etwas reizvolles, geheimnisvolles. Jessica vermocht nicht genau zu sagen, was es nun letztendlich war, aber sie begann sich für sie zu interessieren. Rein aus Neugier versteht sich. Auch für Mic und seine Snakes war diese Frau interessant. Wenn sie es schaffte, gegen Caro anzukommen, konnte man sie vielleicht für ihre Zwecke benutzen. Aber davon waren alle noch ziemlich weit entfernt. Es klingelte und die Schüler gingen wieder in die Klassenräume. Sozialkunde stand auf dem Stundenplan, doch von Frau Bootz war weit und breit nichts zu sehen. So saßen sie jetzt allein in ihrem Klassenraum. Alle Augen waren auf Kathy gerichtet. Alle außer Jessicas. Die schaute in ihr Heft. "Warum bist Du zu uns gekommen?" fragte Ricky vorsichtig, nachdem ihr Caro zugenickt hatte. Kathy schaute Ricky an und sagte leise: "Warum ich hier bin?" fragte sie. Sie machte eine kurze Pause, die Jessica aufblicken ließ. "Ich bin umgezogen. Ich kann meinen Vater zwar nicht verstehen, aber was soll ich machen. Manchmal sind wir alle ein bißchen verrückt." Ricky nickte und schielte zu Caro. Diese verdrehte die Augen. Jessica blickte wieder in ihr Buch. Darum war sie also da. Was mochte das für ein Vater sein, der sie nicht an der alten Schule ihren Abschluß machen ließ? Was mochte das für ein Mädchen sein? Frau Bootz betrat während dessen den Raum. Sie blickte in die Klasse und ging ganz ruhig zum Lehrertisch. "Guten Morgen. Angesichts der Tatsache, daß etwas unschönes passiert ist, werden wir erst in Sozialkunde machen. Ich nehme an, daß Ihr nichts dagegen habt." Ohne auf eine Reaktion zu warten, begann sie mit dem Thema: "Ich weiß, daß ihr hier in Eurer Klasse zwei Gruppen gebildet habt. Die einen die Schlangen und die anderen die Skorpione." Sie sprach langsam und ziemlich leise. In der Klasse war es jetzt mucksmäuschenstill. "Ich weiß nicht, wie Ihr damals auf die Namen gekommen seit, aber es schien von Anfang an ein Kampf zu werden. Ihr habt Euch nie verstanden. Harry ist tot." Die einzige die bei diesen Worten Gefühle zeigte war Jessica. Das Entsetzten stand ihr im Gesicht, während ihre Lehrerin fortfuhr: "Ich will hier nicht gegen jemanden hetzten, der sich nicht mehr wehren kann, aber Harry hatte einen Vorteil. Er respektierte seine Gegner. Er respektierte sie nicht, weil sie ihm gefährlich werden konnten. Er respektierte sie, weil sie vom Prinzip die gleichen Rechte haben. Nun ist Harry tot. Ermordet, von wem sei dahingestellt. Ich weiß nicht, welchem Gerücht ich da glauben mag, aber er ist sicherlich tot. Nun stellt Euch das ganze mal etwa vor 60 Jahre vor. Ein Person ..." Caro unterbrach Frau Bootz: "Sie wollen mich doch nicht mit Adolf vergleichen. Ich meine, warum hat er einige hier nicht gleich mit vergast. Das sollte man wieder einführen." Frau Bootz schaute Caroline an: "Ich weiß, daß Du rechts bist. Du brauchst mir Deine Meinung über mich nicht mitteilen. Ich bin nicht interessiert. Statt dessen solltest Du zuhören. Das ist schließlich auch Deine Geschichte. Und vielleicht überdenkst Du ja Deine Einstellung." Caro mußte Luft holen, bevor sie wieder sprechen konnte. Doch Frau Bootz beachtete sie nicht. "Knallhart.", dachte Jessica. "So muß man mit ihr umgehen. Genau so." Caro schwieg. Es war das einzige, was sie tun konnte. Frau Bootz fing wieder mit ihrem Thema der Stunde an: "Hitler. Ich weiß nicht, wieso manche ihn verehren. Ich kann diese Leute nicht verstehen. Ich behaupte, er war ein Warnsinniger. Wenn Ihr anderer Meinung seit, oder der gleichen, so laßt uns diskutieren. Ich rede bewußt von einer Diskussion, nicht einer Predigt." Alle schauten Frau Bootz erstaunt an. "Was sagt Ihr zu dieser Aussage?" Keiner in der Klasse sagte ein Wort, bis Jessica plötzlich aufstand: "Er war größenwarnsinnig. Er hat schon in jungen Jahren einen Haß gegen die Demokratie in unserer Republik aufgebaut. Er ist der Held derjenigen Deutschen gewesen, die an ihre Arbeit dachten. Endlich wieder Arbeit. Er ist ein Schwerverbrecher gewesen, der Millionen Juden, Intellektuelle, Zigeuner vergast hat. Er hat in seinem Krieg tausende Soldaten, Frauen und Kinder ermordet. Ich weiß nicht, wie manche ihn verehren können, zumal es auch deutsche Soldaten waren." Mic stand ebenfalls auf: "Es ist kein gutes Thema, entschuldigen Sie, Frau Bootz. Alle die sich nicht über seine Verbrechen im Klaren sind, brauchen hier nicht mit zu diskutieren. Für den Rest dürfte alles klar sein. Soweit von mir." Er setzte sich wieder hin. Frau Bootz nickte. "Gut. Ich glaube auch, es hat keinen Sinn." Jessica nickte. Sie blickte erneut auf Kathy. Diese hatte den Kopf gesenkt und blickte wohl in ihren Hefter. Frau Bootz lächelte sie an und schüttelte den Kopf. "Du mußt Kathy sein. Ich habe mich Dir noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Frau Bootz. Ich hoffe, Du wirst Dich schnell in die Klasse einleben. Eigentlich sind hier ja alle recht zugänglich." Sie schaute auf Caro, die sie breit angrinste. "Es gibt allerdings auch Ausnahmen." Frau Bootz machte mit ihrem Unterricht weiter.
Für Jessica brach an diesem Tag eine Welt zusammen. Harry Klein tot? Wie war das möglich? Jetzt konnte sie den drohenden Untergang nicht mehr verhindern.
Nach der Schule versammelten sich die Snakes und die Skorpions in ihren Verstecks. Jessica verließ den Schulhof, um zu ihrer Psychologin Frau Schmidt zu gehen. Jessica haßte diese Frau zwar, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. "Solange es noch schmerzt, lebe ich noch!" dachte sie. Als sie den Schulhof verließ, merkte sie nicht, daß ihr jemand folgte. Sie war in ihren Gedanken völlig wo anders. Langsam ging sie den Weg zur Psychologin und betrat schließlich den Warteraum. Wie jeden Tag stand die selbe Person hinter dem Tresen. Wie jeden Tag nickte sie ihr zu und wie jeden Tag wurde sie nach kurzem Warten in das Zimmer gebeten. Unruhig setzte sie sich auf den Stuhl vor Frau Schmidt. Jetzt begann das zweit schlimmste vom Tag. Eine Stunde lang predigte diese Frau auf sie ein. Jessica kam es vor, als wolle sie, daß Jessica sich vor sich selbst erniedrigte. Kreidebleich und mit Tränen in den Augen verließ sie schließlich die Praxis. Vor der Tür traf sie wie zufällig auf Kathy. "Hallo Jessica.", sagte Kathy. Sie schaute Jessica genauer an. "Was ist los mit Dir?" fragte sie, während sie auf Jessicas Gesicht deutete. "Ich bin nur müde.", war Jessicas Antwort, worauf Kathy den Kopf schüttelte: "Das meine ich nicht." Sie deute auf die Narbe auf ihrer linken Wange, die ihr Dead Soul einst verpaßt hatte. "Da? Ach da habe ich mich mal geschnitten.", log Jessica, doch Kathy durchschaute sie. "Glaub ich nicht.", sagte sie. "Du bist nicht der Typ, der sich schneidet. Was ist überhaupt los mit Dir? Ich meine, Du hast in der Schule ja nicht allzuviel gesagt. Mit Ausnahme von Sozi, mal kurz." Jessica schaute das Mädchen an: "Was soll ich den zu einer Göre sagen, die meinen Mathelehrer beleidigt?" Jessica schaute überrascht, als Kathy nur zu lachen anfing. "Entschuldige, aber dieser Typ ist eine Pfeife. Du glaubst vielleicht, daß ich ihn nicht kennen würde, aber da irrst Du Dich. Dieses Arschloch hat meine Mutter damals vergewaltigt. Er ist mein Vater." Jessica schaute Kathy erstaunt an: "Was?" Kathy wiederholte den letzten Satz. Auch jetzt noch schaute Jessica entgeistert. "Das kann nicht sein. Dann war alles nur Show?" Kathy schüttelte bedächtig den Kopf: "Es ist, wie ich gesagt habe, und ich hasse ihn dafür." Beide nickte jetzt. Sie gingen gemeinsam zu Jessicas Wohnung und erzählten dort lange miteinander. Am Abend verließ Kathy das Haus. Sie waren beide müde und morgen lag ein anstrengender Tag vor ihnen.
Doch für Jessica war dieser Abend noch nicht zu ende. Das Schlimmste kam erst noch. Pünktlich um 10 Uhr wurde die Wohnungstür aufgeschlossen und Dead Soul trat herein. Er war wie jeden Tag schwarz gekleidet. Wie jeden Abend fuhr Jessica jetzt ein Schauer über den Rücken. "Guten Tag, Jessica.", sagte Dead Soul. Er sah durchtrainiert und sehr sportlich aus. Jessica starrte auf seinen Gürtel, an dem Handschellen befestigt waren. "Bitte. Sein Sie gnädig mit mir!" flehte Jessica, vor ihm niederkniend. Dead Soul fuhr ihr mit seinen schwarzen Handschuhen durch ihr schwarzes langes Haar. "Steh auf Du Schlampe!" Jessica gehorchte. Er sah ihr in die Augen, doch Jessica konnte das nicht. Blitzschnell schnappte die Handschelle zu und Jessica war mit der rechten Hand am Bett festgemacht. "Ich will, daß Du Dich vor mir befriedigst.", forderte er sie auf. Jessica schloß die Augen, um ihn wenigstens nicht sehen zu müssen. Sie gehorchte. Dead Soul trat von hinten an sie heran und vergewaltigte sie. Danach verließ er sie. Langsam stand Jessica auf und ging ins Bad. Sie duschte sich, indem sie jede Stelle ihres Körpers mehrmals abseifte. Voller Angst, Dead Soul könnte noch einmal wiederkommen, ging sie am ganzen Körper zitternd ins Bett. Doch zum Glück kam er selten wieder. Auch heute kam er nur das eine Mal.
Kathy war zu sich nach hause gefahren. Zur Zeit wohnte sie bei einer Familie, die sie noch nicht sehr lange kannte, aber mit der sie gut klar kam. Kathy begrüßte ihre Stiefmutter mit der Bemerkung "Give me five". Die Frau schlug ein und nickte Kathy zu. "Na, wie war Dein erster Schultag in der neuen Klasse?" Kathy lächelte sie an und sagte mit dem selben Lächeln auf den Lippen: "Ich habe meinen Vater wiedergesehen." Das Gesicht der Frau erstarrte. "Mach keinen Mist.", sagte sie. Kathy lächelte sie an: "Ivo.", lenkte Kathy ab. "Mit dem Typen will ich nichts mehr zu tun haben." Über das Gesicht der Frau ging ein Lächeln. Sie atmete sichtbar auf. Kathy trat in die Wohnung und ging ins Arbeitszimmer ihres Stiefvaters. Dieser saß am PC und programmierte etwas. Als er merkte, daß Kathy ihm über die Schulter guckte, drehte er sich um. "Na, Kathy. Wie war die Schule?" Kathy starrte auf den Bildschirm und verfolgte die Reihen. "Was programmierst Du?" fragte sie. "Ein Spiel, warum?" war die etwas überraschte Antwort. Kathy beugte sich hinunter: "Sieht nach viel Grafik aus. Meinst Du, der bekommt das verarbeitet." Ihr Vater zuckte die Achseln. "Keine Ahnung. Versuch macht klug." Kathy schob ihn lächelnd ein Stück zur Seite. "Laß mich mal sehen!" Entschlossen faßte sie die Maus. "Datei neu. Wir fangen etwas weiter vorne an." Sie schrieb ein paar Befehle auf und fragte ihren Stiefvater, was diese wohl bedeuteten. Das er noch Beginner war, wußte sie bereits, so daß sie ihm nicht zu viel auf einmal zumutete. Schritt für Schritt näherten sie sich dem, was er schon allein probiert hatte. Der Unterschied war, daß ihr Stiefvater nun wußte, was sie bedeuteten. "Stiefvater?" fragte er. "Vati?", dachte er weiter, "Papa?" Und dann laut: "Du weißt, daß ich Martin heiße. Kannst mich auch so nennen. Das ist das mindeste, was ich Dir anbieten muß." Kathy nickte. Sie hatte Martin einen "kleinen" Gefallen bei ihrem Streifzug durch das Internet getan. Er wußte zwar nicht, wie ihr der Zugang zum Netz seiner Firma gelungen war, aber dort hatte sie gerade noch verhindern können, daß vom Konto der Firma ein großer Betrag illegal überwiesen wurde. Sie hatte die Konten gesperrt, hatte die Spur zurückverfolgt und die Polizei alarmiert. Tage später wurde sie Martin Black vorgestellt, der sie sofort aus dem Zimmer des Jugendheimes holte und mit zu sich in sein Haus nahm. Das war er ihr einfach schuldig gewesen.
Spät am Abend verließ Martin das Zimmer und ließ Kathy weiter surfen. Im Haus und auf den Straßen wurde es ruhig. Kathy hatte ihr Nachthemd angezogen. Mit der Maus in der Hand guckte sie auf den Bildschirm, auf dem zu sehen war, daß man das Web startete. Sie tippte eine Adresse ein und landete auf der Homepage der Snakes. "Guter Junge!", dachte sie, bevor sie auf einen weiteren Link klickte. "JB Code.", stand da zu lesen. "JB?", dachte Kathy. "Etwa John Black? Was könnte er verschlüsselt haben." Es erschien eine Zahlenkolonne, in der scheinbar ohne irgend ein System Zahlen aneinander gereiht waren. Wahrscheinlich zur Übersicht waren zwischen allen drei Ziffern eine frei gelassen. Kathy starrte auf den Bildschirm. Eine ganze Minute lang verharrte sie so, ohne sich zu bewegen. Sie ging auf speichern und schaltete den Decoder aus. Routiniert rief sie ein selbst geschriebenes Programm auf. Der Computer begann zu rechnen. Auf dem Bildschirm erschien das erste Wort der Geheimschrift: "Ich." Kathy schüttelte langsam den Kopf, während der PC weiter rechnete. Es dauerte lange, aber aus dem Zahlenchaos entstand ein verständlicher Satz. "Ein Gedicht?" stellte Kathy fest. "John mag also Gedichte? Gar nicht übel." Sie rief ihren E-Mail-Klienten auf und schrieb jenes Gedicht mit dem Satz: "Shark sieht alles, hört alles. Shark ist überall. Der Code Deiner Seite ist geknackt. Schönes Gedicht. Shark." Die Mail schickte sie von ihrer Adresse shark@t-online.de ab und ging dann wieder online. Auf zu den Seiten der Skorpions. Auch hier fand sie eine ähnliche Seite. Sie ging nach dem selben System vor und schickte Alex eine ähnliche Mail.
Am Morgen traf sich die Klasse wieder in der Schule. Jessica erschien als letzte auf dem Schulhof, doch sie war noch vor dem Einlaß da. Wortlos steuerte sie auf die Tür zu. Etwas abseits stand Alex mit dem Rest der Skorpions. Sein Blick war auf Jessica gerichtet. Ein klein wenig abseits stand Kathy. Sie nickte Alexander zu. Etwas verwirrt schaute er jetzt auf sie und trat zu ihr. "Warum lachst Du?", fragte er ernst. "Ich war gestern auf Deiner Page!" antwortete Kathy, worauf Alex mit den Schultern zuckte. "Computerfreaks scheinen Gedichte zu lieben.", erwiderte sie mit gespieltem Desinteresse. Alex gefror ein eiskalter Schauer. Ihm war bewußt, daß er nur ein Gedicht auf seiner Seite hatte. Dieses Gedicht war der besagte Code. Also mußte ihn irgend jemand geknackt haben. Aber wer? Kathy? Total unwahrscheinlich. Schließlich war sie ja eine Frau. Frauen hatten ja generell von Computern keine Ahnung. Oder? Vielleicht hatte sie nur geraten, daß er ein Gedicht war. Diesen Code konnte man schließlich nicht knacken. Schon gar nicht ein Mädchen, daß noch jünger war als er selbst. Sein Blick richtete sich kurz auf Jessica. Dann blickte er auf Kathy zurück. "Wenn Du weißt, daß es ein Gedicht ist, kannst Du mir die erste Zeile sagen. So glaube ich Dir nämlich kein Wort." Kathy lächelte und sagte: "Es liegt eine Mail in Deiner Box. Noch ein guter Tip. Du hast Jessica das Leben gerettet, im Krankenhaus. Jetzt ist es Zeit für den zweiter Schritt." Alex schluckte, dann wandte er sich ab. Kathy nickte und ging in den Klassenraum. Jessica folgte ihr. Sie hatte von den beiden mitbekommen und ahnte etwas. Was das aber war, vermochte sie nicht zu sagen. Was wollte Kathy von diesem verdammten Kerl, der so unverschämt gut aussah. Jessica wollte schon neidisch auf Kathy werden, bis sie sich ihre Lage verdeutlichte. Alex hing ja immer mit Mic ab und mit dem wollte sie ja nichts mehr zu tun haben. Mit den Snakes hatte sie auch nichts mehr zu tun. Dafür hatte Caro gesorgt. Sie wurde von ihnen vollkommen ignoriert. Jessica folgte Kathy in den Klassenraum, in den sie als erste eintraten. "Was wolltest Du von Alexander?", fragte Jessica. Kathy lächelte. Sie lächelte immer, wenn man sie etwas fragte. "Es ging um Computer. Warum?", antwortete sie. Jessica blickte zu Boden. "Hast Du einen?", fragte sie. Kathy zuckte die Schulter: "Klar habe ich einen PC." Jessica nickte: "OK." Sie drehte sich um und wollte gehen, doch Kathy hielt sie am Arm fest: "Interessiert Dich nicht? Was magst Du denn?" Jessica riß sich los. "Du bist mir zu schön.", sagte Jessica und ließ sie stehen. Sie wußte nicht, was sie tun konnte. Am liebsten hätte sie sich jetzt selbst geohrfeigt. Aber sie konnte ja nicht, weil Kathy hinter ihr stand. Was hätte sie dazu gesagt? Hätte sie sie etwa auch ausgelacht? War ihr das zuzutrauen? Jessica war verunsichert. Mit den Augen suchte sie einen spitzen Gegenstand, den sie sich in den Bauch rammen konnte. Doch sie fand nichts. Vielleicht war das auch gut so, den sonst wäre es das Ende mit der Geschichte gewesen. Kathy ging zu Jessica und legte locker ihre Hände auf Jessicas Hals. Erst erschreckte Jessica, doch dann spürte sie die Wärme, die von ihr ausging. Ein Lächeln fuhr über ihr Gesicht, während sie sich an sie schmiegte. "Du magst ihn?" fragte Kathy mit ruhiger Stimme. Jessica nickte traurig. "Was ich von ihm will ist rein geschäftlich. Ich will nur wissen, was er computertechnisch kann. Sonst interessiert er mich nicht." Jessica fiel ein Stein vom Herzen. Sie glaubte Kathy und war überglücklich, daß es so war.
Mendal betrat den Klassenraum zur ersten Stunde. Er hatte einen Stapel Bücher unter dem Arm. Langsam füllte sich der Raum. Mendal sah sich im Klassenraum um. Caro nickte er kaum sichtbar zu. Diese drehte sich weg und tat uninteressiert. Was konnte Mendal denn schon vor haben? Das konnte nicht viel sein.
Während Jessica leit, brannte in Berlin bereits das Feuer. Es war ein Vulkan, der am Tag nach der Zeugnisausgabe zu explodieren drohte. Bis an die Zähne bewaffnet standen sich die beiden Banden gegenüber. Es war jener Platz, an dem die Snakes am Anfang des Buches erfolgreich waren. Mic und Caro hatten jeweils noch einmal einen Unterhändler in die Mitte geschickt, um dem Unheil doch noch zu entgehen. Es waren Sigi von der Skorpions und Dirk von den Snakes. Erst nach langem betteln hatte Dirk den Unterhändler spielen dürfen, aber ob das so klug war, konnte man jetzt noch nicht sagen. Die beiden trafen sich in der Mitte. Als sie sich die Hand geben wollten, krachte plötzlich ein Schuß. Beide fielen getroffen zu Boden. Caro schien zu verkrampfen. Jessica, die hier her gezwungen worden war, schmiß sich vor eine Hauswand und rührte sich nicht mehr. Der Rest der Banden stürzte aufeinander.
Die Bilanz dieses Manövers waren vier Tote und zahllose Verletzte. Gegen Abend räumte sich der Platz etwas auf. Die, die noch konnten, krochen nach hause. Aus einer Pistole löste sich ein Schuß, und traf Jessica tödlich in die Brust. Von wo der Schuß kam, weiß niemand mit Sicherheit. Es wurde aber spekuliert.
BZ: "3 Tote. Jugendbandenkrieg weiter ausgeweitet. Wie gestern bekannt wurde, haben zwei Jugendbanden am gestrigen Abend ein regelrechtes Schlachtfeld mit 3 Toten, Jessica S., Andy M. Theodor G. und zahlreichen Verletzten hinterlassen. Nach Aussagen der Polizei soll es sich um die stadtbekannten Gruppen der Snakes und der Skorpions handeln, die durch ihr brutales Auftreten bereits in den letzten Jahren für Aufregung sorgten. Mehrere Augenzeigen berichten von einer Person, die laut Personenbeschreibung wie der kürzlich getötete "Harry K." aussah. Die Polizei nahm zehn Jugendliche an Ort und Stelle fest und prüft nun, ob gegen sie Haftbefehl wegen Mordes erlassen werden kann. Weiterhin ermittelte die Polizei eine Komplizin names Kathy B. Sie soll nach Aussagen beider Parteien die Schlacht vorbereitet haben. Außerdem verstärkt die Polizei nach dem Mysteriösen "Harry K." Nach beiden wird zur Zeit bundesweit gefahndet.", so die Worte aus der Berliner Zeitung, die am nächsten Morgen verkauft wurde.
Am nächsten Tag beging Kathy Selbstmord. Man fand Ihre Leiche nicht weit von der Stelle, an der am Tag zuvor die Schlacht stattgefunden hatte. Die Polizei stellte nach Monaten die Ermittlungen ein, ohne Harry Klein - King gefunden zu haben. Totgesagte leben bekanntlich aber länger.
Die Morde wurde nie richtig aufgeklärt. Caro ist mit Mendal untergetaucht ist und plant mit ihm die weiteren Verbrechen.
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